Eine weitere technische “Innovation” mit unbeabsichtigten Folgen:
Programmatische Werbeanzeigen für namenhafte Marken finanzieren weiterhin russische Desinformation
Ein Jahr nach Russlands Überfall auf die Ukraine: NewsGuards Analyst:innen finden Werbung für 79 international renommierte Marken auf pro-russischen Webseiten mit Desinformation zum Krieg – drei Mal mehr als vor einem Jahr. Alle Anzeigen wurden von Google und anderen Ad-Tech-Diensten geschaltet.
Von Madeline Roache und McKenzie Sadeghi
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine erreicht die Ein-Jahres-Marke, und die Maschinerie, die russischen Webseiten Einnahmen generiert und damit ihre Desinformation unterstützt, floriert.
Seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 hat NewsGuard 358 Nachrichten- und Informations-Webseiten erfasst, die Falschbehauptungen über den Krieg in der Ukraine verbreiten. NewsGuard fand heraus, dass fast ein Viertel dieser Webseiten – 88 Webseiten – Einnahmen von 79 Unternehmen erhalten. Auf 42 dieser Webseiten werden Anzeigen von der größten Online-Werbeplattform Google geschaltet.
Bei der gleichen Untersuchung Anfang März 2022 – etwa eine Woche nach Kriegsbeginn – fanden die Analyst:innen von NewsGuard 116 Webseiten, die Fehlinformationen über den Krieg verbreiteten. Die Zahl der Webseiten, die von NewsGuard wegen der Verbreitung russischer Desinformationen und der damit verbundenen Einnahmen aus programmatischer Werbung für internationale Unternehmen identifiziert wurden, hat sich innerhalb eines Jahres von 27 auf 88 verdreifacht.
Die Ergebnisse sind eindeutig und werfen ein grelles Licht auf die mangelnde Transparenz und die fehlende Rechenschaftspflicht der programmatischen Werbeindustrie, einer Hightech-Erfindung, die heute einen Großteil der weltweiten Medien finanziert.
Der Schritt, sich von Russland abzuschotten, den viele global agierende Unternehmen gingen, gilt demnach noch nicht für programmatische Werbung. Im Falle von Google schaltet die Ad-Tech-Sparte des Unternehmens Anzeigen auf 42 dieser Webseiten, gegenüber 18 vor einem Jahr.
Zwischen dem 14. und 21. Februar 2023 fanden die NewsGuard-Analyst:innen Anzeigen für 79 Marken, die auf diesen 88 zuvor identifizierten Webseiten erschienen. Zu den Werbetreibenden gehören viele namhafte Unternehmen wie Hertz, Hulu, Amazon, British Airways, Marriott, IKEA und Macy’s. Die Werbung für diese Marken ist regelmäßig neben Artikeln zu sehen, die eindeutige Falschbehauptungen über den Krieg in der Ukraine verbreiten.
“Es ist schockierend, dass so viele westliche Marken immer noch zulassen, dass ihre Werbung auf Webseiten läuft, die russische Desinformationen veröffentlichen und damit die Kriegsmaschinerie Putins finanzieren”, sagte Jeffrey Sonnenfeld, stellvertretender Direktor der Yale School of Management, der die sehr erfolgreiche Kampagne führte, die westliche Unternehmen aufforderte, ihre Geschäfte in Russland wegen der Invasion in der Ukraine einzustellen. “Die russische Regierung und ihre Sprachrohre behaupten fälschlicherweise, dass es der russischen Wirtschaft gut geht, und leugnen die verheerenden Auswirkungen, die mehr als 1.000 westliche Unternehmen haben, wenn sie ihre Geschäfte im Land einschränken. Es ist paradox, dass sich so viele namhafte westliche Unternehmen aus Russland zurückgezogen haben, die russische Propaganda aber weiterhin mit ihrer Werbung unterstützen.”
Unbeabsichtigte Folgen
Der automatisierte Prozess programmatischer Werbung führt dazu, dass Marken in der Regel nichts vom Erscheinen ihrer Anzeigen auf Desinformationsseiten wissen und nicht diese Absicht verfolgten. Von Werbeagenturen programmatisch gekaufte Anzeigen erscheinen mittels Algorithmen auf digitalen Werbeplattformen, die Anzeigen mittels eines hochtechnisierten Auktionsverfahrens schalten. Dieser Prozess ermöglicht es Werbeplattformen wie Google, Unternehmen zu versprechen, dass sie bestimmte Zielgruppen mit bestimmten demografischen Merkmalen zum niedrigsten verfügbaren Preis ansprechen können. Die Art der Webseite, auf der die Anzeige erscheint, wird bei diesem Verfahren oft nicht berücksichtigt. Einem Bericht von Comscore und NewsGuard zufolge verdienen Webseiten mit Fehlinformationen – darunter solche, die russische Desinformationen, Gesundheitsmythen oder falsche Behauptungen über Wahlen verbreiten – dank programmatischer Werbung für bekannte Marken jährlich 2,6 Milliarden Dollar.
Im Gegensatz zu den 79 Marken, die immer noch auf Webseiten werben, die russische Desinformation – auch mittels Google – verbreiten, haben viele andere Marken und Ad-Tech-Unternehmen Schritte unternommen, um programmatische Werbung auf solchen Seiten auszuschließen. (NewsGuard bietet Exklusionslisten und andere Services für Markensicherheit an, die einen Filter in den programmatischen Werbeeinkaufsprozess einbauen).
Diese anhaltende Werbeunterstützung für Webseiten mit pro-russischer Desinformation scheint sowohl gegen die Richtlinien der großen Ad-Tech-Plattformen als auch gegen den Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation der Europäischen Kommission zu verstoßen. Der Kodex, der im Juni 2022 überarbeitet wurde, fordert die Unterzeichner der digitalen Plattformen und der Ad-Tech-Unternehmen auf, eine Anzeigenschaltung auf Webseiten zu verhindern, die “systematisch schädliche Desinformationen verbreiten”.
Die 358 Webseiten, die als Verbreiter von Falschbehauptungen im Zusammenhang mit dem Krieg identifiziert wurden, können über das NewsGuard Tracking-Center für Falschinformationen über den Krieg in der Ukraine abgerufen werden. Sie reichen von Sputnik News, dem wichtigsten Desinformationskanal des Kremls, bis hin zu anonym betriebenen Blogs. Dazu gehören Webseiten, die ihre Finanzierungsquellen und Besitzstrukturen verbergen, die in Ländern wie Zypern registriert sind oder sich im Besitz von Geschäftspartnern von Wladimir Putin befinden. Obwohl viele Webseiten auf dem Tracker keine direkten Verbindungen zur russischen Regierung haben, sind sie dennoch ein wichtiges Rädchen im russischen Desinformations-System. Falsche Meldungen von Kreml-eigenen Webseiten werden häufig über andere Quellen im Internet weiter verbreitet, die damit zu einem Sprachrohr für die russische Regierung werden.
Google finanziert Webseiten, die eindeutige Falschbehauptungen über den Krieg verbreiten – und verstößt damit gegen seine eigenen Richtlinien
Am 23. März 2022 aktualisierte Google seine Richtlinien: Jede Webseite, die “den Krieg ausnutzt, verleugnet oder gutheißt” wird von der Werbetechnologie des Unternehmens ausgeschlossen. Dennoch stellte NewsGuard fest, dass Google weiterhin Dutzende Seiten monetarisiert, die pro-russische Desinformation verbreiten. Dazu gehört auch die englischsprachige Version von Pravda.ru (“Pravda” bedeutet “Wahrheit” auf Russisch). Sie wird von Vadim Gorshenin betrieben, einem selbsternannten Befürworter des russischen Präsidenten Vladimir Putin.
Pravda.ru, die 1912 als amtliche, gedruckte Zeitung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion begann, musste sich während des Kalten Krieges in den USA gemäß dem Foreign Agents Registration Act als “ausländischer Agent” registrieren lassen.
NewsGuard bat Google drei Mal per E-Mail um eine Stellungnahme zur anhaltenden Monetarisierung von Webseiten, die pro-russische Desinformation verbreiten. Nach Erhalt der Anfrage bat ein Google-Sprecher um das Zusenden von Fragen per E-Mail. NewsGuard kam dieser Aufforderung nach, hatte jedoch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts noch keine Antwort erhalten.
Auf Pravda, das von NewsGuard mit 7,5 von 100 Punkten als nicht vertrauenswürdig eingestuft wird, sind weiterhin von Google geschaltete Anzeigen für bekannte Marken zu sehen. Bei der jüngsten Recherche fanden die NewsGuard-Analyst:innen Werbung für neun international renommierte Marken auf dieser Webseite, zum Beispiel von Hertz, United Airlines, Subaru, Energy and Capital, MSC Cruises und WordPress. Seit der Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat Pravda regelmäßig Desinformation veröffentlicht, die die Position des Kremls unterstützt. Dazu gehören die falschen Behauptungen, dass in der ostukrainischen Region Donbass ein Völkermord verübt wird und der Bombenanschlag auf eine Geburtsklinik in der ukrainischen Stadt Mariupol inszeniert war.