Image via Canva

Russland nimmt Armeniens Wahlen bereits frühzeitig ins Visier

Der Kreml greift erneut in die Wahl eines Nachbarstaates ein. Dieses Mal beginnt die Einflusskampagne deutlich früher als in vergangenen Fällen – folgt aber bekannten Mustern. Das zeigt eine Analyse von NewsGuard.

Von McKenzie Sadeghi, Eva Maitland und Alice Lee | Veröffentlicht am 11. November 2025

 

Seit April hat das russische Propaganda-Netzwerk laut einer NewsGuard-Analyse 18 Falschbehauptungen über Armeniens pro-westliche Regierung verbreitet. Sie tauchten in 13.883 Beiträgen und Artikeln auf und erzielten zusammen 45 Millionen Aufrufe. Die Narrative wurden auf elf Plattformen und in acht Sprachen über KI-generierte Fake-Nachrichtenseiten, koordinierte Social-Media-Accounts und manipulierte Videos verbreitet. Teilweise wurden die Behauptungen sogar von führenden KI-Chatbots als vermeintliche Fakten wiedergegeben.

Die erfundenen Geschichten über Korruption, Sexskandale und andere Affären begannen bereits 14 Monate vor den Parlamentswahlen im Juni 2026 zu kursieren – ungewöhnlich früh im Vergleich zu früheren russischen Einflussoperationen. In Deutschland und Moldau begann die russische Propaganda erst drei beziehungsweise fünf Monate vor den jeweiligen Wahlen im Jahr 2025 – und blieb weitestgehend erfolglos. Offenbar hat Moskau daraus gelernt: Wer Wahlen beeinflussen will, muss früher aktiv werden.

„Armenien ist für Russland wichtiger als Deutschland, Rumänien oder sogar Moldau“, sagte der armenisch-amerikanische Politikwissenschaftler Nerses Kopalyan von der University of Nevada, Las Vegas, gegenüber NewsGuard. „Aus Moskauer Sicht wäre ein politisch blockiertes, erschöpftes und dysfunktionales Armenien ein ideales Ergebnis.“

Russland startete seine Einflusskampagne gegen Armenien bereits früher vor den Wahlen als seine Bemühungen in Deutschland und Moldau. (Grafik via NewsGuard)

Armenien, lange ein enger Verbündeter Russlands, hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend nach Europa orientiert – auch, weil Moskau das Land bei wiederholten Angriffen aus Aserbaidschan nicht verteidigt hat. Im Februar 2024 setzte Ministerpräsident Nikol Paschinjan die Teilnahme Armeniens am russisch geführten Militärbündnis der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) aus. Seit April 2025 läuft der offizielle Prozess für einen EU-Beitritt. Es ist ein Kurswechsel gen Westen von historischem Gewicht.

Der Kreml reagiert darauf mit einer breit angelegten Desinformationskampagne, die darauf abzielt, Paschinjans Regierung zu destabilisieren und das Vertrauen in den Staat vor der Wahl im Juni 2026  zu untergraben.

Eine Grafik, die einige der von Russland gegen Armenien vorgebrachten Falschbehauptungen zeigt. (Grafik via NewsGuard)

Die heikelsten Themen im Visier

Die von NewsGuard identifizierten 18 Falschbehauptungen tragen die Handschrift der russischen Einflussoperation Storm-1516 sowie der angeblichen Menschenrechtsorganisation “Foundation to Battle Injustice”, die vom inzwischen verstorbenen Söldnerführer Jewgeni Prigoschin gegründet wurde. NewsGuard stellte fest, dass diese Operationen dieselben Taktiken anwendeten, mit denen sie bereits zuvor die Wahlen in den USA, Deutschland, Frankreich und der Republik Moldau angriffen.

Die Falschbehauptungen sind keineswegs zufällig. Die Kampagne setzt gezielt auf Themen, die in Armenien bereits emotional aufgeladen sind: Korruption und die Ausrichtung des Landes nach Europa. Fünf der 18 Behauptungen warfen Paschinjan vor, Armeniens nationale Souveränität zu verraten – ein Thema, das viele Armenier laut Umfragen als besonders sensibel betrachten.

Kreisdiagramm, das die falschen Behauptungen über Armenien nach Themen angibt. (Grafik via NewsGuard)

Ein Beispiel: Im Oktober 2025 verbreitete das türkische Portal OdaTV die Behauptung, Paschinjan plane, 1.200 Quadratkilometer im Süden Armeniens an Aserbaidschan abzutreten – eine strategisch entscheidende Region. Ein solcher Schritt könnte das regionale Machtgleichgewicht zulasten Armeniens verschieben.

Paschinjans Sprecherin Nazeli Baghdasaryan wies dies am 17. Oktober 2025 in einer E-Mail an NewsGuard als „vollständig unwahr“ und “Teil einer koordinierten Desinformationskampagne zur Schwächung des öffentlichen Vertrauens vor den Wahlen“ zurück.

Fünf weitere von NewsGuard identifizierte Behauptungen warfen Paschinjan und Mitgliedern seines Umfelds Sex- oder Missbrauchsdelikte vor – ein Muster, das in den vergangenen Jahren bereits gegen Moldaus Präsidentin Maia Sandu, den Bundeskanzler Deutschlands Friedrich Merz, die First Lady Frankreichs Brigitte Macron und den damaligen US-Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz eingesetzt wurde.

Eine gefälschte armenische Nachrichtenseite beschuldigt Paschinjan unbegründet des Kindersexhandels. (Screenshot via NewsGuard)

Taktiken einer Schmutzkampagne

Die Falschbehauptungen über Armenien erzielten insgesamt 45 Millionen Aufrufe – auf elf Plattformen, darunter X, Facebook, Instagram, VK, Rumble, Bitchute, YouTube, 4chan, Threads, Rutube und Telegram. Sie erschienen in acht Sprachen: Arabisch, Armenisch, Aserbaidschanisch, Englisch, Französisch, Russisch, Türkisch und Ukrainisch..

Während einige der Behauptungen online kaum Verbreitung fanden, erzielten andere Millionen von Aufrufen und wurden durch ein komplexes Netzwerk von Akteuren weiterverbreitet und so schrittweise in den öffentlichen Diskurs eingespeist.

Ein Beispiel dafür ist die falsche Behauptung, das französische Nuklearunternehmen Orano habe mit Armenien ein Abkommen geschlossen, um seinen  Atommüll im beliebten Dilidschan-Nationalpark zu lagern – im Austausch für 1,6 Millionen Euro Bestechungsgeld.

Die Geschichte stammte von einer neu registrierten Seite namens CourrierFrance24.fr, die sich als französisches Lokalmedium ausgab. Als Autor wurde der französische freie Journalist Romain Fiaschetti genannt, der NewsGuard in einem Telefoninterview im Juli 2025 erklärte, dass er den Artikel nie geschrieben habe und Anzeige wegen Identitätsdiebstahls erstattete. 

Einen Tag später veröffentlichte GreenArmenia.org, eine neu eingerichtete Seite, die eine legitime armenische Umweltorganisation imitierte, eine Stellungnahme, in der das angebliche Abkommen zwischen Frankreich und Armenien verurteilt wurde – unter Berufung auf nicht näher genannte „französische Medien“. Die Behauptung verbreitete sich daraufhin in den sozialen Medien, unter anderem über Accounts, die sich als wütende Armenier ausgaben, und erzeugte so den Eindruck einer breiten, öffentlichen Empörung.

Später griffen armenische und aserbaidschanische Nachrichtenseiten die Geschichte auf. So sendete etwa der in Baku ansässige internationale Fernsehsender CBC einen Beitrag zu der Behauptung. Auch US-amerikanische konservative Websites wie USSANews.com und The Liberty Beacon verbreiteten die Falschmeldung weiter.

Eine Chronologie, die zeigt, wie sich eine Falschmeldung über Atommüll verbreitet hat. (Grafik via NewsGuard)

Bis Juli 2025 erschien die Geschichte sogar in seriösen Wissenschafts- und Technikportalen wie InterestingEngineering.com und SciencePost.fr. InterestingEngineering veröffentlichte später eine Korrektur, während SciencePost.fr den Artikel still zurückzog.

SciencePost.fr reagierte nicht auf eine E-Mail-Anfrage von NewsGuard vom 10. November 2025, in der es um den Artikel und dessen stille Rücknahme ging.

Wie KI-Chatbots die Kampagne verstärkten

Über die Online-Verbreitung der Behauptung zu dem angeblichen Atommüll-Deal hinaus untersuchte NewsGuard auch führende KI-Chatbots und stellte fest, dass die Falschmeldung von den Chatbots Perplexity, Meta AI, Copilot, You.com und Le Chat von Mistral übernommen wurde. All diese KI-Tools behandelten den gefälschten französischen Artikel als vertrauenswürdige Quelle.

So bewertete Mistral den erfundenen französischen Bericht und die fingierte Stellungnahme der angeblichen armenischen NGO als vertrauenswürdiger als die Gegendarstellungen offizieller Stellen. Die Antwort des Chatbots lautete: „Während es starke Hinweise aus investigativen Berichten und Umweltorganisationen gibt, bestreitet die armenische Regierung weiterhin die Vorwürfe.“

Mistral wiederholt die falsche Behauptung zum Abkommen über Atommüll. (Screenshot via NewsGuard)

Auch Meta erwähnte in seiner Antwort „zentrale Bedenken“ bezüglich des Atommüll-Abkommens, darunter angebliche “Umweltrisiken”, “Rechtsverstöße” und “Korruption”, und behauptete, der Atommüll sei “ohne internationale Aufsicht oder Benachrichtigung der betroffenen Länder in den Nationalpark gebracht worden.”

Als Antwort auf eine Anfrage von NewsGuard wiederholt Meta eine falsche Behauptung über Armenien. (Screenshot via NewsGuard)

NewsGuard fand zudem, dass fünf der 18 Falschbehauptungen für etwa 70 Prozent der Gesamtaufrufe verantwortlich waren – rund 30 Millionen von 45 Millionen Views.

Am stärksten verbreitete sich die Behauptung, Paschinjans Bruder plane, eine historische Stätte für ein Casino abzureißen. Dieses Narrativ erreichte allein 17 Millionen Aufrufe auf X.

Diese Viralität folgt einem wiederkehrenden Muster: Familienbezogene Korruptionsvorwürfe, emotional aufgeladene gesellschaftliche Konflikte, und Verstärkung durch einen koordinierten, mehrstufigen Prozess.

Anzahl der Aufrufe der fünf viralsten pro-russischen Narrative, die sich gegen Armenien richten. (Grafik via NewsGuard)

Gefälschte Medien, erfundene Journalisten und Journalistinnen

Die Behauptungen, Ministerpräsident  Paschinjan und seine Frau Anna Hakobjan seien in finanzielle Korruption verwickelt, stützten sich auf gefälschte Nachrichtenwebseiten, gekaufte Dokumente und gestohlene Reporteridentitäten, um Desinformation als legitimen investigativen Journalismus erscheinen zu lassen.

Hakobjans Bekanntheit als armenische Journalistin und Gründerin der ersten rein weiblichen Militäreinheit des Landes hat sie offenbar zu einem attraktiven Ziel für Kreml-Propagandisten gemacht.

Beispielsweise behauptete ein Artikel vom August 2025 auf „EULeaks.eu“, einer Webseite, die sich als europäisches Nachrichtenportal ausgibt. Darin wurde behauptet, Hakobjan habe 3,4 Millionen US-Dollar von der von ihr gegründeten City of Smile Foundation, einer Krebshilfsstiftung, veruntreut. Der „EULeaks“-Artikel wurde fälschlicherweise dem Journalisten James Creedon von France 24 zugeschrieben.

Ein Sprecher der Foundation erklärte in einer E-Mail an NewsGuard am 15. August 2025, der Vorwurf sei „kategorisch falsch“. Auch Nazeli Baghdasaryan, Paschinjans Pressesprecherin, schrieb in einer ebenfalls am 15. August 2025 an NewsGuard gesendeten E-Mail: „EUleaks.eu ist eine intransparente Webseite, die bereits mehrere unbelegte und irreführende Behauptungen veröffentlicht hat. Dieser jüngste Beitrag ist ein weiteres Beispiel für eine gezielte Fälschung.“

 

Videos, in denen die Ehefrau des armenischen Ministerpräsidenten der Korruption beschuldigt wird. (Screenshots via NewsGuard)

Tatsächlich ist EULeaks.eu kein echtes Nachrichtenportal. Die Webseite ging erst Ende Juli 2025 online und wurde anonym registriert. NewsGuard fand zudem, dass die Seite offenbar Artikel von seriösen Nachrichtenportalen mithilfe von KI umschreibt, um glaubwürdig zu wirken. Loïck Berrou, stellvertretender Direktor von France 24, bestätigte gegenüber NewsGuard in einer E-Mail im August 2025, dass James Creedon nie für die Seite gearbeitet hat.

Armenien in Alarmbereitschaft

Die russischen Einflussversuche treffen auf eine politisch angespannte Situation. In einer Umfrage im Juni 2025 gaben nur 17 Prozent der Befragten an, Paschinjans Partei ‘Zivilvertrag’ wählen zu wollen. Zwar bleibt sie stärkste Kraft, konnte aber bei jüngsten Kommunalwahlen keine klare Mehrheit erreichen.

Im April 2025 – zeitgleich mit dem Auftreten der ersten von NewsGuard identifizierten Falschbehauptungen – berichtete die russische Wirtschaftszeitung Wedomosti, dass Präsident Wladimir Putin den ersten stellvertretenden Stabschef des Kremls Sergei Kirijenko, damit beauftragt habe, pro-russische Informationskampagnen in Armenien zu koordinieren.

Das Carnegie Russia Eurasia Center, eine in Berlin ansässige NGO,  schrieb in einem Bericht im Juli 2025, dass sich unter Kirijenko die „direkte Einmischung von nur einer Option im Arsenal Moskaus zum Hauptinstrument entwickelt hat … der Ansatz, den Kirijenko offenbar Putin vermittelt hat, ist einfach: Russland sollte aufhören, sich zurückhaltend zu geben, wenn es um Eingriffe in die inneren Angelegenheiten anderer ex-sowjetischer Länder geht.“

Armenische Beamte haben ihrerseits  die zunehmenden russischen Propagandaangriffe und die damit verbundenen Herausforderungen anerkannt. Paschinjan selbst warnte in einer Videobotschaft im Oktober 2025 vor einem Dilemma: „Praktische Schritte gegen diese Desinformationskampagne könnten als Versuch interpretiert werden, die Meinungsfreiheit einzuschränken, während Untätigkeit als Schwäche und Verwundbarkeit der Demokratie ausgelegt werden könnten.”

Antibot4navalny, eine anonyme Gruppe Freiwilliger, die russische Einflussoperationen beobachtet, teilte NewsGuard mit, dass auch Matryoshka – eine russische Kampagne, die seriöse Nachrichtenportale imitiert – 46 Videos verbreitet habe, in denen unbegründete Behauptungen über Armenien aufgestellt wurden. Unter den von Matryoshka verbreiteten Videos befand sich ein gefälschter Bericht, der NewsGuard zugeschrieben wurde. Die Zusammenfassung des Videos behauptete: „Ein #NewsGuard-Journalist ging undercover und bekam einen Job bei einem #armenischen Produktionsunternehmen. Er entdeckte, dass es eine ganze Videofabrik gibt, die wohlwollende Inhalte über #Nikol Paschinjan erstellt.“

Das gefälschte NewsGuard-Video warf Armenien fälschlicherweise genau das vor, was Russland in Wirklichkeit selbst tut: Skandale erfinden, gefälschte Journalisten einsetzen, Nachrichtenvideos fabrizieren, NGOs imitieren und Identitäten stehlen.

Redaktion: Dina Contini und Eric Effron