Misinformation Monitor: Februar 2023

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Ein Jahr, fünfzig Filme: Russische Propaganda-Dokumentationen verbreiten sich trotz Verbots auf YouTube

Russische Propaganda, die den Krieg rechtfertigt, wird auf YouTube verbreitet – trotz des Verbots von staatlich finanzierten russischen Medien auf der Plattform

Von Eva Maitland, Madeline Roache, und Sophia Tewa

“Es heißt, wir hätten den Krieg im Donbass in der Ukraine begonnen – nein.” sagt der russische Präsident Wladimir Putin grimmig in die Kamera, flankiert von den Farben der russischen Flagge. “Er wurde kollektiv vom Westen entfacht, der den verfassungswidrigen bewaffneten Putsch in der Ukraine im Jahr 2014 organisiert und unterstützt hat und dann den Völkermord an den Menschen im Donbass gefördert und gerechtfertigt hat.”

Dieser Clip – in dem Putin eindeutige Fehlinformationen über die Ursprünge des Krieges verbreitet, den in Wirklichkeit er begonnen hat – steht am Anfang einer aufwendig produzierten, 30-minütigen Dokumentation auf dem YouTube-Kanal iEarlGrey, der laut russischen Staatsmedien vom “unabhängigen” Journalisten Mike Jones betrieben wird. Obwohl das Logo seines Kanals in das Video eingebettet ist, ist Jones nicht der Urheber. Der Film wurde vom russischen Propagandakanal RT produziert und zuerst auf dessen Webseite speziell für Dokumentationen RTD.RT.com veröffentlicht. Das konnte NewsGuard durch einen Vergleich des YouTube-Uploads von iEarlGrey mit dem RT-Dokumentarfilm auf RTD.RT.com feststellen. Auf YouTube hat iEarlGreys neu veröffentlichter RT-Film in drei Monaten 43.000 Aufrufe erzielt und enthält weder ein RT-Branding noch eine Warnung, dass es sich um russische Propaganda handelt.

Seit der Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die RT-Webseite für Dokumentationen RTD.RT.com 50 Filme veröffentlicht, die Desinformation über den Krieg verbreiten. Das ist im Durchschnitt etwa ein Film pro Woche. Diese Videos sind kostenlos auf der Webseite von RTD – und, wie NewsGuard jetzt herausfand, auch auf YouTube – in russischer und englischer Sprache verfügbar, einige zudem auch auf Französisch und Spanisch.

Im März 2022 hat YouTube staatlich finanzierte russische Medien weltweit von seiner Plattform verbannt und alle RT-Kanäle gesperrt. Trotz dieser Maßnahme fand NewsGuard mehr als 250 Uploads von RT-Videos über den Krieg in der Ukraine auf mehr als 100 YouTube-Kanälen. Zusammen wurden diese Beiträge über eine halbe Million Mal angesehen. Etwa 200 Uploads von RT-Filmen zeigten deutlich das RTD-Logo. Bei 50 Videos wurden alle Hinweise auf die Verbindung zu RT entfernt –  vermutlich um zu verhindern, dass sie von YouTube entdeckt werden.

RTD.RT.com Dokumentationen über den Krieg in der Ukraine (Screenshot von NewsGuard)

Die Filme wiederholen Falschinformationen über die Ukraine, darunter die bereits erwähnte Behauptung, die Maidan-Revolution im Jahr 2014 sei ein “vom Westen unterstützter Putsch” gewesen. In den Videos wird auch behauptet, die ukrainischen Behörden hätten einen “Völkermord” an russischsprachigen Menschen im Donbass begangen und der Nationalsozialismus sei in der ukrainischen Politik und Gesellschaft weit verbreitet. (Diese und mehr als 100 weitere Behauptungen wurden von NewsGuard im Tracking Center für Falschinformationen über den Krieg in der Ukraine widerlegt).

In den Filmen werden schockierende Bilder verwendet, um pro-russische Falschbehauptungen über den Krieg zu unterstützen. So zeigt beispielsweise die Eröffnungssequenz des von RT produzierten und von NewsGuard auf Youtube entdeckten Dokumentarfilms “Operation Ukraine: Crime without Punishment, history of crimes against Donbass civilians” (Verbrechen ohne Strafe: Geschichte der Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung im Donbass) die Folgen von zwei Raketeneinschlägen in zivilen Gebieten in der Ostukraine im März und April 2022. Der Film wurde vom ehemaligen US-Polizisten und jetzigen pro-russischen Verschwörungstheoretiker John Mark Dougan auf YouTube veröffentlicht. Mit Hilfe eines Interviews mit einer trauernden Witwe und von Aufnahmen von zivilen Opfern versucht er, die Ukraine für deren Tötung  verantwortlich zu machen. Als Beweis führt er die vielfach widerlegte Behauptung an, dass eine auf einer Tochka-U-Rakete gefilmte Seriennummer belege, die ukrainische Armee sei für einen der Angriffe verantwortlich. In dem Video erklärt ein angeblicher politischer Experte: “Eine solche Provokation ist vielschichtig. Das Dritte Reich hat sie auch benutzt.” Bis Februar 2023 hatte der Film 19.000 Aufrufe auf Dougans Kanal erreicht.

In mehreren Dokumentarfilmen werden andere bekannte Propaganda-Erzählungen des Kremls verbreitet, z. B. dass die Sanktionen gegen Russland auf die “Russophobie” des Westens zurückzuführen seien und dass die Strafmaßnahmen kaum Auswirkungen auf Russland und zerstörerische Folgen für die europäischen Volkswirtschaften hätten.

Auf die Bitte um Stellungnahme hat YouTube die Erkenntnisse von NewsGuard nicht bestritten. In einer E-Mail an NewsGuard vom 20. Februar 2023 sagte ein YouTube-Sprecher: “Seit dem Beginn des verheerenden Krieges in der Ukraine haben unsere Teams die Verbreitung gefährlicher Inhalte schnell eingeschränkt bzw. Inhalte direkt entfernt. Gleichzeitig haben unsere Systeme Nutzer:innen mit hochwertigen Informationen aus zuverlässigen Quellen verbunden. Wir haben mehr als 9.000 Kanäle und mehr als 85.000 Videos mit Bezug zum Krieg entfernt, weil sie gegen unsere Richtlinien verstoßen haben. Außerdem haben wir weltweit YouTube-Kanäle gesperrt, die mit staatlich finanzierten russischen Nachrichtensendern in Verbindung stehen. Mehr als 800 Kanäle und über 4 Millionen Videos wurden daraufhin gesperrt. Unsere Teams beobachten den andauernden Krieg nach wie vor genau und sind bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen.”

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels hatte YouTube 81 der 250 Uploads entfernt.

Die RussiaToday-Influencer auf YouTube: Vom Online-Gamer zur werbefinanzierten russischen Propaganda-Schleuder

NewsGuards Recherche ergab, dass die meistgesehenen englischsprachigen RT-Propagandafilme auf dem von Mike Jones betriebenen Kanal iEarlGrey zu sehen sind. Der ehemalige YouTube-Gamer lebt in St. Petersburg, wie aus seinem Twitter-Profil hervorgeht. Vor März 2022 konzentrierte sich der Kanal hauptsächlich auf die Produktion von Videos über Online-Gaming. Kurz nach der Invasion Russlands in die Ukraine wandte sich Jones jedoch Themen der russischen Propaganda zu. Er veröffentlichte Videos mit Titeln wie “Mutter behauptet ‘Es gab keinen Luftangriff'”. Hier wiederholte Jones die vielfach widerlegte Behauptung des Kremls, der Luftangriff auf eine Entbindungsklinik in Mariupol im März 2022 sei inszeniert gewesen. Das Video verstößt gegen die YouTube-Richtlinie, nach der Inhalte verboten sind, die gut dokumentierte gewaltsame Ereignisse leugnen, verharmlosen oder trivialisieren. Während der Erstellung dieses Artikels ist es weiterhin auf dem Kanal zu sehen und generiert Werbeeinnahmen.

NewsGuard-Analyst:innen in den USA und Großbritannien fanden heraus, dass Dutzende pro-russische Propagandavideos auf dem YouTube-Kanal iEarlGrey von Google aktivierte programmatische Anzeigen enthielten. Diese reichen von bekannten Marken wie Expedia und dem Hausversicherungsanbieter Urban Jungle über gemeinnützigen Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen bis hin zu internationalen Organisationen wie dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das seit Beginn des Krieges humanitäre Hilfe in der Ukraine leistet. Ein weiteres monetarisiertes Video auf dem YouTube-Kanal von iEarlGrey ist der von RT produzierte Dokumentarfilm “Ice Station Europe”. Darin wird die Behauptung aufgestellt, die “antirussischen Sanktionen” hätten die europäischen Volkswirtschaften sinnlos zerstört, da es “keine Alternativen zu russischen [Gas]lieferungen gibt”.

Seit kurzem zeigen monetarisierte Videos auf seinem Kanal, wie Jones offenbar in den von Russland besetzten Gebieten Lugansk und Donezk in der Ostukraine filmt. NewsGuard fand heraus, dass diese Videos programmatische Werbung unter anderem von Sandy Hook Promise enthielten. Diese gemeinnützige Organisation wurde von Eltern gegründet, deren Kinder 2012 bei der Schießerei in Newtown ums Leben kamen. Weitere Spots warben für das International Rescue Committee, eine humanitären Hilfsorganisation, die sich unter anderem um die Soforthilfe für ukrainische Geflüchtete kümmert, sowie für die Versicherungsgesellschaft Liberty Mutual und für Spectrum, einen US-amerikanischen Anbieter von Internet- und Mobilfunkdiensten. (Während zahlreiche pro-russische Propagandavideos auf iEarlGrey monetarisiert wurden, enthielt die große Mehrheit der RT-Propagandafilme, die NewsGuard auf YouTube fand, keine programmatische Werbung).

Werbung für Expedia in einer RT-Dokumentation auf iEarlGrey (Screenshot via NewsGuard)

Mit Jones’ Hilfe sind diese russischen Propagandafilme auf YouTube Zehntausende Male aufgerufen worden. Zum Beispiel die RT-Dokumentation “Fast Forward to Fascism”, die seit der Veröffentlichung auf Jones Kanal im November 2022 mehr als 50.000 Aufrufe erhalten hatte. Darin wird die Falschbehauptung wiederholt, die Ukraine sei systematisch gegen ethnische Russen in der Ostukraine vorgegangen. Das Video stellt zudem Aufnahmen aus dem Nazi-Deutschland der 1940er Jahre und Szenen aus der heutigen Ukraine nebeneinander.

Nachdem NewsGuard YouTube um einen Kommentar zu dieser Recherche gebeten hatte, entfernte YouTube iEarlGreys Upload von “Fast Forward to Fascism” sowie 17 weitere Uploads des Films auf anonymen Kanälen, die NewsGuard gefunden hatte.

YouTube hat sich nicht zu den Anfragen von NewsGuard geäußert, warum iEarlGrey weiterhin russische Propaganda auf YouTube veröffentlichen darf und warum diese Videos Werbeeinnahmen generieren dürfen.

iEarlGrey gab keine Antwort auf die Anfragen von NewsGuard zur Verbreitung von Kreml-Propaganda und RT-Dokumentarfilmen durch seinen Kanal sowie zu seiner Beziehung zu RT.

Ein Upload des Videos "Fast Forward to Fascism" mit 50.000 Aufrufen auf iEarlGrey, in dem Aufnahmen aus dem Dritten Reich und Szenen aus der Heutigen Ukraine nebeneinander gezeigt werden (Screenshot von NewsGuard)

NewsGuard fand heraus, dass andere Kanäle eine ähnliche Entwicklung wie iEarlGrey durchlaufen haben.Der anonym betriebene Kanal EVENT2BABI NEWS veröffentlichte früher französischsprachige R&B-Musikvideos. Im August 2022 ging er aber dazu über, pro-russische Propaganda zu verbreiten und zeigt nun auch RT-Dokumentationen in voller Länge, die ins Französische übersetzt wurden. Der Kanal hat 42.000 Abonnent:innen. Ein hochgeladenes Video mit dem Titel “Wagner PMC, Contract with the Motherland” (Gruppe Wagner: Vertrag mit dem Vaterland) über die Arbeit von Russlands brutaler privater Söldnergruppe Wagner wurde in den zwei Monaten nach dem Hochladen 133.000 Mal angesehen. Der Erfolg dieses Videos wurde anscheinend durch etwa 20 Accounts verstärkt, die einen Link zu dem Film auf Twitter geteilt hatten. Dadurch konnte das Video weit über das Publikum des Kanals hinaus verbreitet werden, wie NewsGuard feststellte.

Anonyme Pro-russische Hetzer – von YouTube scheinbar nicht bemerkt

Nicht alle Kanäle, die auf YouTube für RT-Filme werben, hatten eine so große Anzahl an Abonnent:innen wie iEarlGrey oder EVENT2BABI NEWS. NewsGuard hat über 80 anonyme Kanäle entdeckt, die pro-russische Propaganda über den Krieg verbreiten. Aufgrund ihrer geringen Abonnentenzahl und der geringen Anzahl der Aufrufe pro Video scheinen diese Kanäle in der Lage zu sein, die Moderation durch YouTube zu umgehen, obwohl sie täglich mehrere RT-Nachrichtenclips hochladen. Obwohl sie einzeln unbedeutend erscheinen, haben sie gemeinsam eine starke kumulative Wirkung.

NewsGuard fand beispielsweise heraus, dass der RT-Film “Donbass: I’m Alive!” von etwa 40 verschiedenen, anonym betriebenen YouTube-Kanälen hochgeladen wurde, die zusammengenommen Zehntausende von Zuschauer:innen erreichen. Der Film behauptet in seiner Schlusssequenz, dass “die NATO die Reinkarnation der Wehrmacht und der SS ist”. 

YouTube entfernte die 40 Uploads, nachdem NewsGuard sie auf das Video aufmerksam machte, äußerte sich aber nicht dazu, wie sich diese Inhalte auf der Plattform verbreiten konnten. YouTube äußerte sich auch nicht zu der Anfrage von NewsGuard, ob es einen Schwellenwert für die Abonnentenzahl gibt, unterhalb dessen YouTube die Inhalte der Kanäle nicht überwacht.

Uploads des Dokumentarfilms "Donbass: I'm Alive!" durch anonyme YouTube-Accounts (Screenshot von NewsGuard)

Neben den anonym geführten Accounts fand NewsGuard RT-Filme auf mindestens fünf Kanälen, die anscheinend von der russischen Regierung betrieben werden und eine geringe Anzahl von Abonnent:innen haben. Die Kanäle mit Namen wie “Russian House in Dar es Salaam” und “Russian House in Athen” werden angeblich von Rossotrudnichestvo betrieben, der russischen Föderalen Behörde für die Angelegenheiten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, im Ausland lebende Landsleute und internationale humanitäre Zusammenarbeit. Es handelt sich um eine staatliche russische Einrichtung zur Kulturförderung. (Rossotrudnichestvo ist seit Juli 2022 mit EU-Sanktionen belegt, weil die Behörde nach Ansicht der EU “die Narrative des Kremls, einschließlich des Geschichtsrevisionismus”, verbreitet).

YouTube erklärte, es habe einige der gekennzeichneten Inhalte entfernt, weil sie die Beschränkungen der Plattform für russische staatlich geförderte Nachrichtenkanäle umgangen hätten. In der Tat hat YouTube Uploads von RT-Dokumentationen von diesen Kanälen entfernt, aber zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels waren die Kanäle selbst weiterhin auf der Plattform verfügbar.

Eine erfolgreiche russische Propagandakampagne?

Die Chefredakteurin von RT, Margarita Simonyan, hat offen darüber gesprochen, wie der Sender Kanäle ohne Branding nutzt, um das Verbot von YouTube zu umgehen. Im April 2022 sagte sie dem staatlichen russischen Fernsehsender Russia-1: “Ohne unsere Marke zu verwenden, eröffnen wir einen Kanal auf YouTube, der innerhalb weniger Tage Millionen von Aufrufe erhält. Nach drei Tagen finden die Geheimdienste [von YouTube] es heraus […] und schließen ihn.”

Auf eine Anfrage von NewsGuard, ob RussiaToday selbst hinter den verschiedenen Accounts steht, die diese Filme verbreiten, hat RT nicht geantwortet. NewsGuard war nicht in der Lage herauszufinden, ob RT selbst hinter den verschiedenen Accounts steckt, die diese Videos verbreiten. Dennoch zeigen die Ergebnisse dieser NewsGuard-Recherche, dass russische Propaganda trotz des Verbots auf Youtube gedeiht.