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Von McKenzie Sadeghi, Jack Brewster und Macrina Wang | Veröffentlicht am 26. September 2023 

Auf seinem X-Profil stellt sich China Daily als unabhängiges Medienunternehmen dar. Unter dem malerischen Bannerfoto eines chinesischen Nationalparks findet sich ein blaues Häkchen ⁠— das früher die Authentizität des Autors signalisierte. Ein Stücken weiter unten folgt die Einordnung als “Medien- und Nachrichtenunternehmen”. In der Biografie heißt es: “Tauschen Sie sich miteinander aus, während wir Nachrichten und Analysen aus #China und darüber hinaus teilen”.

China Daily ist jedoch keine für eine Demokratie typische Nachrichtenagentur. Vielmehr handelt es sich um eine regierungseigene chinesische Zeitung, die regelmäßig Desinformation verbreitet und im Februar 2020 vom US-Außenministerium als ein von der Volksrepublik China kontrolliertes Propagandamagazin eingeordnet wurde.

Bis zum 20. April 2023 trugen China Daily und andere Medien das Label “staatsnah” ⁠— ein Hinweis für Nutzer:innen von X (ehemals Twitter), dass es sich um staatlich geführte Medien handelt, denen es an redaktioneller Unabhängigkeit mangelt. Doch am nächsten Tag entfernte der Eigentümer von X, Elon Musk, diese Kennzeichnung. Damit war der Weg frei für chinesische Propagandaquellen sowie russische und iranische Staatsmedien. Sie können nun Desinformation verbreiten, ohne dass X-Nutzer:innen transparente Informationen über die Art der Quelle erhalten.

Die Auswirkungen waren unmittelbar und gravierend.

In den 90 Tagen nach der Entfernung der Kennzeichnung auf X stiegen die Interaktionen (Likes und Reposts) mit englischsprachigen Accounts russischer, chinesischer und iranischer Staatsmedien im Vergleich zum vorherigen 90-Tage-Zeitraum um 70 Prozent. Das ergab eine NewsGuard-Analyse anhand von Daten der Mediamonitoring-Plattform Meltwater. Die Ergebnisse von NewsGuard zeigen, dass fremde Akteure nun in der Lage sind, ein größeres ⁠— und weniger informiertes ⁠— Publikum zu erreichen. Nutzer:innen interagieren nun mit den Accounts, möglicherweise ohne zu wissen, dass diese Quellen ihre eigene Agenda verfolgen und Propaganda verbreiten.

Die englischsprachige Version des russischen Senders RT (ehemals Russia Today) verzeichnete das größte Wachstum an Interaktionen, nachdem X-Nutzer:innen nicht länger darauf hingewiesen wurden, dass der Sender von der Regierung des russischen Präsidenten Wladimir Putins betrieben wird. So verdoppelte sich die Zahl der Likes und Reposts auf fast 2,5 Millionen, gegenüber 1,3 Millionen zu der Zeit, als der Hinweis noch vorhanden war. Der russische Nachrichtensender TASS konnte nach der Änderung der X-Richtlinie die Interaktionen mit seinem Account um 63 Prozent steigern, das iranische PressTV um 97 Prozent und die chinesische Global Times um 26 Prozent.

Interaktionen mit diesen und anderen staatlich betriebenen Desinformationsquellen stiegen drastisch – und das, obwohl die Anzahl der Post sich kaum veränderte. In den drei Monaten nach der Änderung der X-Richtlinie erhielten die zwölf (vier russische, vier chinesische und vier iranische) von NewsGuard analysierten Accounts insgesamt 4,98 Millionen Likes und Reposts auf insgesamt 63.108 Posts (X bezeichnet “Tweets” jetzt als “Posts”). In den  drei Monaten vor der Änderung erhielten die Accounts 2,93 Millionen Interaktionen auf 62.551 Beiträge.

Im September 2023 antwortete X nicht auf zwei E-Mails von NewsGuard, in denen um eine Stellungnahme zu den Analyse-Ergebnissen gebeten wurde. Zudem fragte NewsGuard nach den Hintergründen der Entscheidung, die Kennzeichnung zu entfernen ⁠— eine Änderung der Plattformpraktiken, die das Unternehmen bis heute nicht erklärt hat. Musk schrieb im April 2023 in einem Post, der nicht in Verbindung mit der Entscheidung veröffentlicht wurde, dass “alle Nachrichten bis zu einem gewissen Grad Propaganda sind” und dass die Menschen “selbst entscheiden sollten”.

Die Entscheidung, alle Kennzeichnungen zu entfernen, kam 16 Tage nachdem Musk NPR als “staatlich finanziertes Medium” bezeichnet hatte. Das führte zu einem Boykott der Plattform durch die in Washington ansässige gemeinnützige Nachrichtenorganisation. Es stimmt, dass NPR zum Teil von der amerikanischen Regierung finanziert wird. Das Medium arbeitet jedoch unter einer von der Regierung unabhängigen Satzung und wird auch durch Programmgebühren finanziert, die von den Mitgliedssendern gezahlt werden. Diese wiederum werden zum Teil von der amerikanischen Regierung sowie den Regierungen der einzelnen Staaten und Gemeinden unterstützt.

Regierungspropaganda breitet sich weiter aus ⁠— jetzt ohne Warnung

Nicht nur die Profilseiten der Accounts enthielten vor der Änderung einen Hinweis auf die Verbindungen der Accounts zur Regierung. Auch in allen einzelnen Posts des Accounts wurde eine entsprechende Warnung beigefügt. Außerdem enthielten Beiträge von Konten (staatlich oder nicht), mit Links zu Artikeln staatlicher Medien, ein orangefarbenes Ausrufezeichen mit der Aufschrift “Stay informed”.

Jetzt wissen Nutzer:innen nur, ob ein Konto regierungsnah ist, wenn sie bereits Hintergrundwissen über die Quelle besitzen oder eigene Nachforschungen anstellen.

Keiner der zwölf von NewsGuard analysierten staatlichen X-Accounts ⁠— die zusammen insgesamt 30,9 Millionen Followers haben ⁠— gibt freiwillig an, dass er mit der Regierung verbunden ist. So heißt es beispielsweise in der Selbstbeschreibung der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS auf X: “Bei uns werden Nachrichten zu Geschichten und Ereignisse zu Geschichte”. Die Selbstbeschreibung des staatlichen russischen Nachrichtensenders RT lautet: “Freiheit vor Zensur, Wahrheit vor Narrativ”, und das Konto wird als “Medien- und Nachrichtenunternehmen” bezeichnet.

Obwohl die zwölf staatlichen X-Accounts alle als Verbreiter von Desinformation bekannt sind, stellte NewsGuard fest, dass die Beiträge mit den meisten Interaktionen in den drei Monaten nach Musks Änderung der Kennzeichnungsrichtlinie keine offensichtlichen Unwahrheiten enthielten. Stattdessen enthielten die Beiträge regelmäßig Memes und Propaganda, die den Westen und seine Verbündeten zu untergraben versuchen. 

Am 1. Juli 2023 teilte beispielsweise das iranische Press TV ein Meme, in dem es über die Reaktionen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf Proteste gegen  Polizeigewalt in Frankreich und auf Demonstrationen für die Rechte der Frauen im Iran spottete. Dem französischen Staatschef warf der Account “Doppelmoral” vor. Der Beitrag, der bis zum 20. September 2023 insgesamt mehr als 8.000 Likes und Reposts erhielt, war der drittbeliebteste Beitrag des Accounts in den drei Monaten nach der Entfernung der Kennzeichnungen staatlicher Medien.

Michael Lynch, ein Philosophieprofessor an der University of Connecticut, verfasste im April 2022 eine Studie darüber, wie Memes als Instrument für Fehlinformationen genutzt werden. Er sagte im Interview mit NewsGuard im September 2023, dass staatliche Akteure Memes als Waffe einsetzen, um Propaganda zu verbreiten, weil sie “die Menschen einlullen”. Er fügte hinzu, dass “viele von ihnen versuchen, die Menschen zum Lachen zu bringen. Lachen gibt den Menschen ein gutes Gefühl und macht sie empfänglicher für die Botschaft”.

An dem Tag, an dem X die Kennzeichnung “staatsnahe Medien” entfernte, fuhren die Accounts mit der Verbreitung von Desinformation fort, nur dieses Mal ohne die zusätzliche Ebene der Transparenz.

Das iranische Fernsehen PressTV schrieb in einem Beitrag am 21. April 2023: “Die USA ‘schuf’ die Terrorgruppe Daesh, bestätigt Präsidentschaftskandidat 2024”. Der Beitrag ⁠— der 148 Mal geliked und geteilt wurde ⁠— verlinkte auf einen Artikel der PressTV-Website. Dieser zitierte als Quelle die Behauptung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy Jr., dass die Vereinigten Staaten “ISIS [auch bekannt als Daesh] geschaffen haben”.

(Expert:innen verweisen zwar auf Aktionen der USA, die zum Aufstieg von ISIS beigetragen haben könnten. Aber es gibt keine Beweise dafür, dass die USA den Islamischen Staat geschaffen haben oder dass sie die Gruppe derzeit in irgendeiner Weise kontrollieren. ISIS ist aus anderen Organisationen hervorgegangen, die auf den radikalisierten jordanischen Staatsbürger Abu Musab al-Zarqawi zurückgehen, wie Wissenschaftler:innen und andere Expert:innen in der Region berichten).

Im September 2023 schickte NewsGuard E-Mails an die 12 in diesem Bericht analysierten staatlich kontrollierten Medien mit der Frage, ob sie mit der Einschätzung von NewsGuard übereinstimmen, dass sie wiederholt Desinformation verbreitet haben, und warum sie in ihren Social-Media-Profilen nicht freiwillig offenlegen, dass sie mit der Regierung in Verbindung stehen. Auf diese Nachfrage erhielt NewsGuard keine Antworten.

Wie X Nutzer:innen in Richtung staatlich geförderter Desinformation treibt

Die Abschaffung der Hinweise ist nicht die einzige Richtlinienänderung bei X, die staatlichen Medienorganisationen zugutekommt. Ein weiterer Grund für den Anstieg der Interaktionen mit diesen Accounts könnte darin liegen, dass Nutzer:innen nicht mehr aktiv nach Inhalten staatlicher Medien suchen müssen. NewsGuard stellte während seiner Untersuchung fest, dass der Algorithmus von X diese Accounts Nutzer:innen nun regelmäßig vorschlägt, und bestätigte damit Berichte anderer Forschenden.  

Von August 2020 bis Anfang 2023 verhinderte X (damals Twitter) das Boosten von Accounts, die einer Regierung nahestehen. X sagte, dass “keine dem Staat nahestehenden Medienkonten oder deren Tweets durch unsere Empfehlungssysteme, einschließlich der Home-Timeline, der Benachrichtigungen und der Suche” verstärkt würden.

Presseberichte haben jedoch dokumentiert, wie staatliche Medienaccounts nun regelmäßig algorithmisch in den “For you”-Feeds empfohlen werden. Diese Seiten beliefern Nutzer:innen nach Angaben der Plattform vom 31. März 2023 mit Inhalten, die nur auf den Metriken eines Beitrags und der vorherigen Aktivität der Nutzer:innen basieren.

NewsGuards Analyst:innen riefen die zwölf staatlichen Medienprofile im Laufe ihrer Analyse wiederholt auf. Schon bald tauchten die Accounts an Stellen auf, von denen sie zuvor ausgeschlossen waren ⁠— einschließlich der “Who to follow?”- Spalte der Suchergebnisse. Als ein NewsGuard-Analyst ein neues X-Konto einrichtete und nach “China” suchte, waren vier der fünf Top-Ergebnisse chinesische staatliche Medienunternehmen.

Neun der zwölf staatlichen Accounts profitieren offenbar auch vom Premium-Abonnement-Service von X, mit dem verifizierte Konten laut der Plattform “bevorzugte Platzierungen in Konversationen” erhalten und in “For you”-Feeds erscheinen. Die Premiumstufe vergibt außerdem ein blaues Häkchen an Konten. Nutzer:innen ohne Premium-Mitgliedschaft sind nicht mehr berechtigt, in “For you”- Empfehlungen zu erscheinen, so Musk. Er erklärte, dass dies “der einzige realistische Weg ist, um die Übernahme durch fortgeschrittene KI-Bot-Schwärme anzugehen”.

Desinformationsquellen begrüßen Musks Richtlinienänderungen

Wie bereits erwähnt, ist unklar, warum Musk die Kennzeichnung staatlicher Medien als regierungsnahe Medien fallen ließ. Nichtsdestotrotz haben Accounts, die früher einen Hinweis auf eine staatliche Verbindung trugen, diesen Schritt gelobt und die geringeren Sicherheitsvorkehrungen der Plattform gefeiert.

“Jetzt kann man mich sogar über eine Suche finden”, schrieb Margarita Simonyan, Chefredakteurin des russischen Staatssenders RT, in einem Beitrag vom 21. April und dankte Musk “von Herzen”. Jingjing Li, eine Reporterin für das staatlich geführte China Global Television Network, schrieb auf X: “Das Etikett ‘China staatsnahe Medien’ ist weg!!!”

Methodik:

Am 13. September 2023 analysierte NewsGuard die Gesamtzahl der Likes und Reposts von zwölf englischsprachigen X-Accounts regierungsnaher Organisationen, die laut NewsGuard Desinformation verbreitet haben. Die Daten wurden mithilfe von Meltwater, einer Plattform für Medienmonitoring, erfasst. Zu den analysierten staatlichen Quellen gehörten vier russische staatliche Quellen (RT, Sputnik News, RIA Novosti und TASS), vier iranische staatliche Quellen (Press TV, Islamic Republic News Agency, The Tehran Times und Mehr News) sowie vier chinesische staatliche Quellen (People’s Daily, Global Times, China Daily und Xinhua). NewsGuard verglich die Interaktions-Metriken der Accounts in den 90 Tagen vor der Änderung der Kennzeichnungsrichtlinie von X (21. Januar 2023 bis 20. April 2023) und in den 90 Tagen danach (21. April 2023 bis 20. Juli 2023).