Misinformation Monitor: November 2021

Ein Jahr danach: COVID-19-Falschinformationen

Facebook und Twitter ignorieren Desinformations-Superspreader

Von Alex Cadier
Zusätzliche Recherchen von
Melissa Goldin, Chine Labbé, Kendrick McDonaldVirginia Padovese und Marie Richter

Ein Jahr später ignorieren Facebook und Twitter weiterhin Warnungen vor Dutzenden Desinformationsprofilen – obwohl sie wissen, dass sich über diese COVID-19-Fehlinformationen verbreiten. Einige der Konten haben in der Zwischenzeit sogar ihre Reichweite gesteigert.

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Auf der Facebook-Seite der Website WakingTimes.com – die falsche Behauptungen zu Gesundheit und Wissenschaft veröffentlicht – wurde ein Artikel geteilt, in dem fälschlicherweise behauptet wird, die Zahl der COVID-19-Fälle und -Todesfälle sei überhöht. (Screenshot via NewsGuard)

Die großen Plattformen sind im Kampf gegen Desinformationen in der Pflicht. Doch Facebook und Twitter haben es versäumt, ihre Nutzerinnen und Nutzer vor 43 irreführenden Konten zu schützen. Diese verbreiten nach wie vor gefährliche COVID-19-Falschinformationen, obwohl NewsGuard sie den Plattformen bereits im vergangenen Jahr gemeldet hat. In weiteren Fällen blieben die Warnungen ohne Konsequenz: Gegen mehr als die Hälfte der 85 Konten, die NewsGuard zu Beginn der Pandemie gemeldet hatte, wurden keine sichtbaren Maßnahmen ergriffen. Sie wurden weder entfernt, noch verlinkten die Plattformen auf Faktenchecks und Richtigstellungen. Bei fast einem Viertel der Konten stieg die Zahl der Follower oder Likes sogar an – um mehr als eine Millionen.

Die Zahlen belegen: In beinah eineinhalb Jahren blieben die Bemühungen der Plattformen gegen die sogenannte Infodemie weitgehend ineffizient.  Ihr Vorgehen erscheint nur halbherzig – trotz der Schäden durch Desinformationen. So erklärt sich, warum Gesetzgeber und Regulierer immer weniger auf freiwillige Verpflichtungen vertrauen. Sie diskutieren zunehmend alternative Ansätze, um die Betreiber in die Pflicht zu nehmen. 

Im April 2020 veröffentlichte NewsGuard vier Berichte über „Superspreader“ auf Facebook und Twitter in den Vereinigten Staaten und Europa. Die Berichte identifizierten 85 Konten und Seiten auf den beiden Plattformen, die eindeutig falsche Informationen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verbreitet hatten.

Facebook und Twitter wurden auf die NewsGuard-Veröffentlichung aufmerksam gemacht und kommentierten sie in Presseberichten. Im November 2021 überprüfte NewsGuard, ob auf die Worte Taten folgten. Doch 43 der gemeldeten Desinformations-Accounts waren nach wie vor aktiv. 19 von ihnen hatten bei Likes oder Followern zugelegt.

Falschinformationen, die NewsGuard bereits im April 2020 auf den besagten Twitter- und Facebook-Konten markiert hatte, sind nach wie vor öffentlich. Zu diesen gehören:

  • COVID-19-Sterblichkeit ist „sehr gering, wahrscheinlich sogar nicht existent“.
  • Bill Gates kündigte an, dass COVID-19-Impfstoffe zu 700.000 Todesfällen führen würden
  • Die 5G-Technologie wird mit der Verbreitung von COVID-19 in Verbindung gebracht.
  • COVID-19 wurde in einer Simulation vorhergesagt.
  • Vitamin C kann COVID-19 vorbeugen.
  • COVID-19 ist eine „biologische Waffe, die in einem amerikanischen Militärlabor entwickelt wurde“.
  • Gesunde Menschen „erleiden keinen Schaden“ durch COVID-19.
  • COVID-19-Impfstoffe verfügen über Mikrochip-Tracking-Technologie, die Bill Gates finanziert hat
Auf dem Twitter-Account der rechtsextremen Webseite EgaliteEtReconciliation.fr wurde fälschlicherweise behauptet, dass es seit dem Beginn der COVID-19-Impfungen zu einem "echten Massaker" gekommen sei. (Screenshot via NewsGuard)

Unterschiede in den USA und Frankreich

Der Vergleich der beiden Plattformen ist aufschlussreich: NewsGuard hatte im vergangenen Jahr bei Twitter 26 und bei Facebook 59 Konten gemeldet. Zuletzt war jeweils noch rund die Hälfte aktiv. Unterschiede zeigten sich bei der Entwicklung der Followerzahlen: Auf den verbliebenen Twitter-Konten stieg sie deutlich mehr (durchschnittlich 23,7 Prozent) als auf den noch aktiven Facebook-Seiten (durchschnittlich 3,9 Prozent).

Einzelne Accounts haben sich positiv entwickelt: Fünf Facebook- und ein Twitter-Account hatte NewsGuard im April 2020 noch als Desinfomationsseiten entlarvt. Doch nach der Veröffentlichung des Berichts haben sie keine COVID-19-Falschinformationen mehr verbreitet. Daher wurden sie in der erneuten Analyse nicht berücksichtigt.

Die Reaktionen der beiden Plattformen unterschieden sich auch je nach Herkunftsland. Twitter entfernte mehr als die Hälfte der markierten Konten in den USA, während alle französischen Konten bis auf eines weiterhin aktiv waren. Ähnlich sieht es bei Facebook aus: Das Unternehmen entfernte in den USA mit 38 Prozent die meisten der markierten Konten; in Frankreich waren es nur 17 Prozent. 

Mindestens neun der Facebook-Konten aus dem NewsGuard-Bericht vom April 2020 verbreiteten die falsche Behauptung, Vitamin C könne COVID-19 heilen. Von diesen neun Seiten wurden vier entfernt und fünf sind weiterhin aktiv. Die Facebook-Nutzer erhalten von der Plattform keinen Hinweis darauf, warum bestimmte Seiten Fehlinformationen verbreiten dürfen, während andere entfernt werden.

Diese Ergebnisse decken sich mit den Erkenntnissen aus zwei anderen aktuellen NewsGuard-Berichten. Der Veröffentlichung von Oktober 2021 zufolge haben 20 Facebook-Konten, -Seiten oder -Gruppen, die für COVID-19- oder Impf-Fehlinformationen bekannt sind, innerhalb eines Jahres 370.000 Follower hinzugewonnen. Der andere Bericht von September 2021 zeigte, dass die Video-Sharing-App TikTok Kindern Impfstoff-Fehlinformationen anzeigt. Die betroffenen Kinder folgten weder einschlägigen Konten noch nutzten sie gezielt die Suchfunktion.

Willkür und Intransparenz bei den Plattformen

Zusammengenommen zeigen diese Berichte einen besorgniserregenden Trend: Die großen sozialen Medien lassen immer wieder zu, dass sich gefährliche Gesundheitslügen und COVID-19-Fehlinformationen auf ihren Plattformen unkontrolliert ausbreiten – selbst, wenn sie über die Risiken informiert sind.

Ein Grund könnte im grundsätzlichen Umgang der Plattformen mit Fehlinformationen, Faktenprüfungen und dem Entfernen von Inhalten liegen. Sie machen ihre Entscheidungen in dem Bereich kaum transparent. Im Oktober 2021 veröffentlichte die Facebook-Whistleblowerin France Haugen Dokumente, denen zufolge Facebook die Problematik in mehreren umfangreichen Studien selbst untersucht hat. Das Ergebnis: Falschinformationen in Echokammern steigern die Impfskepsis. Zudem überhäufen Impfgegner Beiträge von zuverlässigen Quellen wie der Weltgesundheitsorganisation bei Facebook mit Kommentaren.

Trotz der Bitten von Experten, Gesetzgebern und der Regierung Biden hält Facebook diese Daten geheim. So bleibt unklar, nach welchen Kriterien die Plattformen Seiten entfernen –  oder eben gewähren lassen. Selbst bei Konten, die dieselben Hoaxes verbreiten, scheint das Vorgehen des Plattformbetreiber willkürlich.

Der NewsGuard-Bericht vom April 2020 listet vier Twitter-Accounts, denen zufolge die 5G-Technologie mit der Verbreitung von COVID-19 in Verbindung steht. Auch in diesem Fall erfahren Nutzer nicht, warum die Plattform bestimmte Konten mit dieser Fehlinformation gewähren lässt und andere entfernt.

Weitere Maßnahmen sind nötig

Falschinformationen oder ganze Konten zu entfernen ist keineswegs ein Allheilmittel. Stattdessen könnten die Betreiber ihre Nutzerinnen und Nutzer mit Aufklärung schützen, indem sie Desinfomationsseiten als solche kennzeichnen. Je mehr Informationen Nutzer an der Hand haben, desto besser können sie selbst beurteilen, welche Seiten vertrauenswürdig sind und sich an grundlegende Standards halten. Stattdessen lassen willkürliche, intransparente Richtlinien zur Entfernung von Inhalten die Nutzer im Unklaren.

Sowohl Twitter als auch Facebook haben Maßnahmen gegen gefährliche Fehlinformationen ergriffen – einschließlich der Kennzeichnung einzelner Beiträge. Doch die Analysen von NewsGuard zeigen: Trotz der Bemühungen können Desinfomations-Accounts in den sozialen Medien weiter wachsen.

Auf dem Twitter-Account von ByoBlu.com, einer italienischen Webseite, die von dem Blogger Claudio Messora betrieben wird, wurde fälschlicherweise behauptet, dass "diejenigen, die den Impfstoff gegen COVID-19 erhielten, ein höheres Sterberisiko haben als diejenigen, die nicht geimpft wurden". (Screenshot über NewsGuard)

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick

NewsGuard meldete im April 2020 85 Konten, die COVID-19-Fehlinformationen verbreitet haben. Gegen 43 wurden keine Maßnahmen ergriffen und sie haben weiter gefährliche Falschinformationen verbreitet. 19 Konkten haben zudem ihre Followerzahl um durchschnittlich 13,8 Prozent erhöht.

Gegen 13 der 26 von NewsGuard gemeldeten Twitter-Konten wurden keine Maßnahmen ergriffen. Bei zehn von ihnen ist die Zahl der Follower im Durchschnitt um mehr als 23,7 Prozent gestiegen. Das entspricht 358.927 Followern.

Von den 59 Facebook-Konten, die NewsGuard wegen COVID-19-Fehlinformationen gemeldet hat, hat der Betreiber gegen 31 keine Maßnahmen ergriffen. Bei neun von ihnen stieg die Zahl der Follower um insgesamt 718.000. Die durchschnittliche lag damit bei 3,9 Prozent.

 

Korrektur: In einer früheren Version dieses Reports stand unter “Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick” fälschlicherweise, dass alle 85 Konten, die von NewsGuard wegen der Verbreitung von COVID-19-Fehlinformationen gemeldet wurden, dies auch weiterhin taten. Tatsächlich haben, wie im Report selbst angegeben, 43 der 85 identifizierten Konten weiterhin Falschinformationen veröffentlicht. NewsGuard bittet diesen Fehler zu entschuldigen.