Wie eine Datenbank ihr Ziel verfehlt: Impfkritiker konstruieren irreführende Aussagen über Impftote anhand eines Warnsystem der US-Regierung

Von Melissa Goldin, John Gregory und Kendrick McDonald

Mit Beiträgen von Chandler Kidd, Chine Labbé, Bron Maher, Virginia Padovese und Marie Richter


Am 30. April 2021 berichtete die Webseite Natural News über den Tod eines Zweijährigen, der Ende Februar die zweite Dosis eines COVID-19-Impfstoffs von Pfizer-BioNTech während klinischer Studien an Kindern erhalten haben soll. Der Haken an der Geschichte: Kinder unter fünf Jahren haben vor April noch keine Impfungen erhalten, so eine Pressemitteilung auf der Pfizer-Webseite.

NewsGuard stuft Natural News als “rot” ein, das heißt als eine im Allgemeinen unzuverlässige Webseite. Die besagte Falschmeldung hatte Natural News von einer bekannten Quelle übernommen: von der ebenfalls rot bewerteten Webseite Great Game India. Sie bringt regelmäßig Pandemie-Fehlinformationen in Umlauf, so etwa im Januar 2020 folgende Unwahrheit: das COVID-19-Virus sei aus einem kanadischen Labor gestohlen worden.

Als einzigen Beleg zitieren die beiden Webseiten das Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS). Die U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und die U.S. Food and Drug Administration (FDA) betrieben die VAERS-Datenbank seit 31 Jahren. Sie sei “ein nationales Frühwarnsystem zur Erkennung möglicher Sicherheitsprobleme bei in den USA zugelassenen Impfstoffen”, heißt es auf ihrer Webseite.

In der Tat erreichte die VAERS am 5. März 2021 ein Bericht, demzufolge ein Zweijähriger aus Virginia am 25. Februar einen COVID-19-Impfstoff erhalten hat, ab dem 1. März an Nebenwirkungen litt und zwei Tage später starb. Laut dem Bericht war der Säugling 17 Tage lang im Krankenhaus. Lediglich diese Information verleitete Great Game India zu einer Mutmaßung: “Vielleicht war das Baby wegen der ersten Impfung erkrankt. Trotzdem verabreichte man ihm die zweite Spritze.”

In dem Artikel verweist Great Game India auf Pfizers eigene Werbung, in der von Impfversuchen an Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren die Rede ist. “Wie konnte dann ein zweijähriges Baby geimpft werden?”, fragen die Autoren des Artikels. 

Die Antwort: Es wurde nicht geimpft. Der Vorfall hat so nie stattgefunden. 

USA Today hat  den Artikel von Natural News einem Faktencheck unterzogen. Darin sagt CDC-Sprecherin Kristen Nordlund, dass der Bericht “komplett erfunden” sei. Daher unternahm die CDC den seltenen Schritt, ihn aus dem VAERS-System zu entfernen. 

Nicht zum ersten Mal haben Impfgegner die Datenbank für ihre Desinformationskampagnen missbraucht. Fälschlicherweise behaupten sie, dass COVID-19-Impfstoffe Tod, Unfruchtbarkeit oder andere Nebenwirkungen hätten.

NewsGuard hat die Artikel untersucht, die sich über Facebook verbreiten und VAERS prominent zitieren. Dafür nutzte NewsGuard die Daten von NewsWhip, einem Unternehmen für Social-Media-Intelligenz. Das Ergebnis: Rot bewertete Webseiten wie Natural News und Great Game India sind für über 80 Prozent der Facebook-Interaktionen (Likes, Shares und Kommentare) mit diesen Artikeln verantwortlich.

Die Gründung von VAERS geht auf das Jahr 1990 und eine Bundesgesetzgebung zurück. So sollten Gesundheitsdienstleister verpflichtet werden, unerwünschte Nebenwirkungen von Impfstoffen zu melden. Ohne jegliche Prüfung  gelangen die Berichte in die VAERS-Datenbank. Denn gutgläubig ging man davon aus, dass die gemeldeten Vorfälle der Realität entsprächen oder zumindest auf ehrlich gemeinten Annahmen beruhten. Aber das war vor dem modernen Internet. Heute kann jeder alle noch so haltlosen Behauptungen an VAERS melden und sofort weiter veröffentlichen.

System mit Schwächen: eine Plattform für Impf-Informationen (und -Fehlinformationen)

VAERS ist ein System, das von vornherein Schwachstellen hatte. Es sammelt unbestätigte Berichte über alle vermeintlichen Nebenwirkungen von Impfungen. In die Datenbank schaffen es alle Berichte: solche über berechtigte Vermutungen zu Impfnebenwirkungen und solche, die ausschließlich auf Hörensagen beruhen oder keinen plausiblen Zusammenhang mit einem Impfstoff aufweisen. Beispielsweise meldet jemand einen tödlichen Autounfall auf der Heimfahrt von einer Impfung – ein tragisches Ereignis, das aber nicht durch Impfnebenwirkungen verursacht ist. Die Hersteller sind verpflichtet, alle Vorfälle zu melden, die potenziell in Zusammenhang mit ihren Impfstoffen stehen. Darüber hinaus kann jeder eine Meldung an VAERS übermitteln, ohne den eigenen Namen oder Kontaktinformationen anzugeben.

Das System VAERS ähnelt damit einem Service wie Facebook – mit all seinen Vorteilen, allerdings auch den Gefahren. Ungefiltert sammelt es eine Fülle an Informationen. Damit ist es auch eine Plattform für diejenigen, die ihre Bedenken oder ihre Agenda gegen Impfen verbreiten wollen. Während der größten Impfaktion der US-Geschichte dient VAERS als Frühwarnsystem für tatsächliche Nebenwirkungen. Jedoch ist es auch ein Verstärker für den falschen Alarm einer kleinen, aber lauten Minderheit: die Impfgegner und -skeptiker.

Dr. Paul Offit ist nicht überrascht, dass die Anti-Impf-Bewegung VAERS während der Einführung des COVID-19-Impfstoffs für ihre Zwecke ausnutzt. Offit ist Direktor des Vaccine Education Centers am Children’s Hospital of Philadelphia und Mitglied des Impfstoff-Beratungsausschusses der FDA.

“Die Impfgegner werden immer sagen: ‘Seht euch all diese Todesfälle an, seht euch all den Schaden an, den diese Impfstoffe anrichten.’ Das wird sich nicht ändern, und es wird immer eine Gruppe geben, die ihnen glaubt. Um das zu ändern, müssten wir alle auf einen Planeten ziehen, der von Vernunft und Logik beherrscht wird”, sagt Offit.

Nichtsdestotrotz akzeptieren Offit und andere Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens die Anfälligkeit des Systems für Manipulationen als ein notwendiges Übel. Sie meinen, dass der Umfang und die Transparenz von VAERS ein Beweis dafür sind, wie ernst die Regierung die Sicherheit von Impfstoffen und die möglichen Risiken nimmt.

Ein ‘Hypothesen-Generator’: Zugänglichkeit ist VAERS’ Stärke und Schwäche zugleich

In den ersten sechs Monaten seit der Einführung des COVID-19-Impfstoffs dominierte eine Quelle die Einreichungen bei VAERS: Vor allem Vertreter der breiten Öffentlichkeit meldeten vermeintliche Vorfälle in Zusammenhang mit dem neuen Impfstoff. Zuvor kam der Großteil der Meldungen in der Regel von den Herstellern.  

Angegebene Quellen von VAERS-Meldungen vom 14. Dezember 2020 bis 10. Mai 2021

*Basierend auf Informationen, die ein CDC-Sprechers per E-Mail an NewsGuard übermittelte.

Der Trend zum Crowd-Sourcing ist nicht ausschließlich schlecht. Da jeder einen Vorfall an VAERS melden kann, kann das System seltene und unerwünschte Ereignisse schnell erkennen. Bestes Beispiel: Dank VAERS wurde das geringe Risiko des Johnson-&-Johnson-Impfstoffs für Thrombosen entdeckt. In dem Fall habe VAERS wie beabsichtigt funktioniert, so die Forscher.

“Die klinischen Studien waren groß, aber sie waren nicht groß genug, um ein Risiko aufzudecken, das vielleicht eins zu einer Million ist”, sagte Susan Ellenberg, Professorin für Biostatistik, medizinische Ethik und Gesundheitspolitik an der Perelman School of Medicine der University of Pennsylvania. “Sobald mehrere Millionen Menschen geimpft sind, kann man neue Erkenntnisse gewinnen. Es war durchaus außergewöhnlich, dass die Vorfälle die Aufmerksamkeit derjenigen erregen konnten, die diese Daten überwachen.”

Mit einer derart groß angelegten Datenbank könne VAERS als “Hypothesen-Generator” fungieren, sagt Dr. Tom Shimabukuro, stellvertretender Direktor des Immunization Safety Office des CDC, in einem Telefoninterview mit NewsGuard. Sobald ein unerwartetes Muster oder Sicherheitsproblem auftritt, testen Gesundheitsbehörden die Hypothese mit Hilfe von Impfstoff-Überwachungssystemen. Sie nutzen beispielsweise den Vaccine Safety Datalink, über den die CDC Zugriff auf die elektronischen Gesundheitsdaten von zwölf Millionen Menschen aus neun großen Gesundheitsorganisationen hat.

Allerdings machen seine Zugänglichkeit und Transparenz das System auch anfällig für Falschmeldungen – auch für gezielte Falschmelden von Anti-Impf-Organisationen. “Wenn sich Leute zusammentun und das System mit Berichten überfluten, könnte das passieren”, sagt Shimabukuro von der CDC. “Vermutlich sind solche Fälle die Ausnahme. Wir müssen ein Gleichgewicht finden: Das System muss zugänglich bleiben und betrügerische Berichte filtern.”

Gefälschte Berichte wurden in der Vergangenheit bereits aufgedeckt. In einem berüchtigten Beispiel demonstrierte der Anästhesist James Laidler das Missbrauchspotenzial von VAERS. Im Jahr 2004 hatte er einen Bericht eingereicht, in dem er behauptete, ein Grippeimpfstoff habe ihn in den “Unglaublichen Hulk” verwandelt. Der Bericht wurde nachträglich aus VAERS entfernt – aber erst nachdem die CDC Laidler um seine Erlaubnis gebeten hatte, ihn zu löschen.

Die CDC sagt, dass sie jedem an VAERS gemeldeten Todesfall nachgeht, indem sie medizinische Aufzeichnungen, Autopsieberichte und Sterbeurkunden anfordert. “Auf diese Weise hat die CDC auch entdeckt, dass der Bericht [über den Tod des Zweijährigen nach einer COVID-19-Impfung] erfunden war”, schreibt Nordlind in einer E-Mail an NewsGuard. Sie erklärte nicht im Detail, wie die CDC den Betrug aufgedeckt hat.

Was die Öffentlichkeit übersieht: was VAERS offenlegt und was alternative Plattformen verheimlichen

Auf der VAERS-Webseite sind Warnhinweise und Erklärungen zur Nutzung der Datenbank reichlich: Was sagen die Daten aus – und wie sollten sie nicht interpretiert werden? Unter den Reitern “Über VAERS”, “Ein Leitfaden zur Interpretation von VAERS-Daten” und “VAERS-Daten” erfahren Nutzer und Nutzerinnen, dass nicht jede gemeldete Nebenwirkung nachweislich von einem Impfstoff verursacht worden sei. Bei den häufig gestellten Fragen geht es um Stärken und Grenzen von VAERS. Die Daten könnten einen möglichen Zusammenhang zwischen vermeintlicher Nebenwirkung und Impfstoff nicht belegen, so die Angaben auf der Webseite. Das habe bereits für Verwirrung bei den öffentlich verfügbaren Daten gesorgt – “insbesondere in Bezug auf die Anzahl der gemeldeten Todesfälle”. In den FAQ findet sich erneut der explizite Hinweis auf mögliche Falschmeldungen in der VAERS-Datenbank, deren Inhalte “nicht verwendet werden können, um die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen zu bestimmen”.

An den Hinweisen führt auf der Seite kein Weg vorbei, auch wenn Nutzer und Nutzerinnen nicht gezielt in den FAQ nach den Informationen suchen. Denn bevor sie auf Berichte zugreifen können, müssen sie zumindest einen Blick auf einen Disclaimer mit entsprechenden Erklärungen werfen. Erst nach dem Klick auf den Button “Ich stimme zu” geht es zu den einzelnen Berichten.

Mit der Einführung der COVID-19-Impfstoffe hat die CDC eine zusätzliche Analyse der VAERS-Berichte auf ihrer Webseite zur Verfügung gestellt. Darin heißt es: “Eine Überprüfung der verfügbaren klinischen Informationen, einschließlich der Totenscheine, Autopsieberichte und medizinischen Aufzeichnungen, hat keinen Kausalzusammenhang zu COVID-19-Impfstoffen ergeben.”

Es gibt jedoch alternative Plattformen, auf denen jeder auf die VAERS-Daten zugreifen und die unmissverständlichen Hinweise der CDC umgehen kann. Eine solche ist MedAlerts.org, die die Impfgegner des National Vaccine Information Center betreiben. NewsGuard-Recherchen zufolge haben sie auf der eigenen Webseite wiederholt Falschinformationen zu Gesundheitsthemen veröffentlicht.

OpenVAERS.org legt nicht offen, wer hinter der Seite steht. Ein Verantwortlicher der Plattform teilte NewsGuard in einer E-Mail vom April 2021 nur mit, dass sie von einer “kleinen Gruppe von Eltern mit impfgeschädigten Kindern” betrieben wird. Die Seite listet VAERS-Meldungen zu angeblichen Todesfällen und Krankenhausaufenthalten nach COVID-19-Impfungen auf – ohne zu erwähnen, dass diese Berichte nicht verifiziert sind. Dabei ist nicht klar, ob die gemeldeten Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben oder mit einem Impfstoff zusammenhängen.

Dr. Offit vom Children’s Hospital of Philadelphia und dem Impfstoff-Beratungskomitee der FDA sagte gegenüber NewsGuard, dass das System zwar für Mediziner und Beamte des öffentlichen Gesundheitswesens hilfreich sei. Den Mehrwert für die breite Öffentlichkeit stellte er aber in Frage: “Ich denke, dass VAERS für sie bedeutungslos ist. Leute können sich die Daten nicht einfach anschauen und bewerten, ob die Zusammenhänge real sind oder nicht.”

Der Facebook-Effekt: Verzerrte VAERS-Daten in sozialen Medien

NewsWhip, ein Unternehmen für Social-Media-Intelligence, hat untersucht, wie sich VAERS-Meldungen über Facebook verbreiten. Die Datenerhebung startete am 11. Dezember 2020, als die FDA erstmals einen COVID-19-Impfstoff genehmigte. Bis Mai 2021 zählte NewsWhip mehr als 1,1 Millionen Interaktionen rund um Posts, die VAERS an prominenter Stelle erwähnten – etwa in der Überschrift oder in der Artikelzusammenfassung.

Bemerkenswert ist, dass etwa zwei Drittel dieser Interaktionen auf eine einzige VARES-Meldung zurückgehen. Diese berichtet von einer Frau aus Utah, die im Februar nach der zweiten Impfung gestorben sei. Mindestens 58 lokale Fernsehsender der Broadcast-Gruppe Sinclair Broadcast haben diese Geschichte veröffentlicht. Viele der Beiträge wurden nachträglich aktualisiert mit dem Verweis auf eine Erklärung des Utah Medical Examiner’s Office. Dieser zufolge “gibt es keine Beweise dafür, dass COVID-19-Impfstoffe irgendwelche Todesfälle in Utah verursacht haben”.

Wenn man diese Geschichte als Ausreißer ausklammert, ergab sich ein klares Bild bei der Verteilung Facebook-Interaktion rund um VAERS-Daten: NewsGuard stellte fest, dass mehr als 80 Prozent von Webseiten mit roter Einstufung stammen. Darunter sind altbekannte Quellen von Impfstoff-Fehlinformationen wie Children’s Health Defense, eine Gruppe, die Robert F. Kennedy Jr. leitet.

Facebook-Interaktionen mit Verweis auf VAERS-Daten von grün und rot bewerteten Webseiten 

Einige Artikel, die VAERS-Daten verzerren, behaupten kurzum, dass Impfstoffe gefährliche Folgen hätten. Zum Beispiel erklärte der Personal Trainer und Life Coach Christian Elliot auf seiner rot bewerteten Webseite DeconstructingConventional.com: “Zum Zeitpunkt dieses Schreibens verzeichnet VAERS über 2.200 Todesfälle durch die aktuellen COVID-19-Impfstoffe sowie fast 60.000 unerwünschte Reaktionen.” 

Viele Artikel, die NewsGuard überprüft hat, sind vorsichtiger bei ihren Behauptungen. Sie enthalten Anmerkungen zum Ursprung der VAERS-Daten. Sie berichten von Todesfällen “nach” einer Impfung, anstatt explizit von Todesfällen “durch” einen Impfstoff zu sprechen. 

Ein Beispiel dafür ist ein Artikel vom Februar 2021 der Children’s Health Defense: “VAERS ist der wichtigste Mechanismus, um unerwünschte Impfstoff-Reaktionen in den USA zu melden. Berichte, die bei VAERS eingereicht werden, erfordern weitere Untersuchungen, bevor bestätigt werden kann, dass ein unerwünschtes Ereignis mit einem Impfstoff in Verbindung steht.” 

Allerdings werden diese Hinweise – wenn es sie denn überhaupt gibt – oft von irreführenden Schlagzeilen überschattet. Sie verknüpfen die detaillierten Wiederholungen der VAERS-Daten mit beängstigenden und spekulativen Fragen zu Impffolgen. Die gut belegte Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen gerät in den Hintergrund.

Zum Beispiel behaupten Impfgegner häufig, dass die VAERS-Daten  nicht repräsentativ seien und es eine große Dunkelziffer von Impfschäden gebe. Joseph Mercola hatte erst im Februar einen Warnbrief von der FDA erhalten, nachdem er falsche Gegenmittel gegen COVID-19 vermarktet hatte. Diesen Monat erklärte er in einem Artikel: “Laut einer Studie des US-Gesundheitsministeriums [HHS] wird weniger als ein Prozent der unerwünschten Impf-Nebenwirkungen jemals an VAERS gemeldet.” Er fügte hinzu, dass “es in Wirklichkeit über EINE MILLION COVID-Impfschäden geben könnte, da 99 Prozent üblicherweise nicht gemeldet werden.”

In der Tat behauptet ein Bericht der Krankenkasse Harvard Pilgrim Health Care aus dem Jahr 2011, dass “weniger als ein Prozent der unerwünschten Impfnebenwirkungen gemeldet werden”. Der Bericht wurde dem HHS vorgelegt, jedoch ohne eine spezifische Quelle für diese Zahl zu nennen. Aus verschiedenen Gründen ist die Angabe im aktuellen Kontext irreführend: Der Umfang der COVID-19-Impfung und die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema sind kaum vergleichbar mit anderen Impfkampagnen. Es lässt sich nicht behaupten, dass unerwünschte Nebenwirkungen aller Impfstoffe in VAERS gleichermaßen repräsentiert sind. Noch kann die Zahl von einem Prozent die Berechnungsgrundlage für die “wahre” Anzahl sein.

“Milde Nebenwirkungen werden nur selten gemeldet. Viele Menschen erwarten diese möglicherweise und haben daher gar kein Bedürfnis, sie zu melden”, teilte das CDC Immunization Safety Office im Dezember 2020 Agence France-Presse mit. “Zum Beispiel sind schmerzende Arme eine erwartete Folge nach bestimmten Impfstoffen, die vielleicht nicht bei VAERS eingereicht werden.”

Shaydanay Urbani ist Partnerships and Programs Manager bei First Draft News, eine Non-Profit-Organisation, die sich mit Falsch- und Desinformation befasst. Er äußerte sich gegenüber NewsGuard zu den Hinweisen auf die Aussagekraft der VAERS-Daten, wie sie die Children’s Health Defense auf ihrer Webseite veröffentlicht. Urbani zufolge helfen sie den Lesern und Leserinnen kaum, eine informierte Entscheidung über die Sicherheit der COVID-19-Impfstoffe zu treffen.

“Meiner Meinung nach reicht es nicht aus, den Disclaimer zu zitieren, wenn sie die [VAERS-]Daten verwenden. Denn am Ende des Tages treffen die Artikel Schlussfolgerungen auf Basis der Daten. Aber wie kann das Berichterstattung sein, wenn man dann sagt, die Daten seien nicht verifiziert?”, sagt Urbani. “Wie kann das eine zuverlässige Information für die Öffentlichkeit sein? Wie könnte das den Menschen helfen, die Impfung zu verstehen?”

Haftung, Verantwortlichkeit, Falschdarstellung: die Geschichte von VAERS

VAERS wurde 1990 von der CDC und der FDA als Reaktion auf den National Childhood Vaccine Injury Act (NCVIA) von 1986 gegründet. Dieser sieht unter anderem vor, dass Gesundheitsdienstleister unerwünschte Impfnebenwirkungen melden müssen.

Vor VAERS und dem NCVIA war die Zahl der Klagen gegen Impfstoffhersteller und Gesundheitsdienstleister in den 1970er und 1980er Jahren dramatisch angestiegen. Hersteller mussten Einzelpersonen und Familien für angebliche Impfschäden wie zum Beispiel durch den Diphtherie-Pertussis-Tetanus-Impfstoff (DPT) entschädigen, auch wenn es keine wissenschaftlichen Beweise für die Behauptungen gab.

Infolgedessen stellten viele Pharma-Unternehmen die Produktion von Impfstoffen ein, da mögliche Haftungs-, Anwalts- und Entschädigungskosten immer höher wurden. Bis Ende 1984 produzierte beispielsweise nur noch ein US-Unternehmen den DPT-Impfstoff. Der US-Kongress verabschiedete daraufhin den NCVIA, um das Haftungsrisiko zu reduzieren und gleichzeitig den Bedenken der Bevölkerung weiter Rechnung zu tragen.

Dank VAERS wurde nicht nur das seltene Risiko von Blutgerinnseln bei dem COVID-19-Impfstoff von Johnson & Johnson bekannt. Mit dem System konnten Wissenschaftler auch Gesundheitsrisiken anderer Impfstoffe identifizieren – etwa des Impfstoffs RotaShield. Dieser sollte Rotavirus-Gastroenteritis, schwere Diarrhoe und Dehydrierung, verhindern. Im Oktober 1999, mehr als ein Jahr nach der Zulassung des Impfstoffs in den USA im August 1998, nahm der Hersteller das Medikament freiwillig vom US-Markt. Bei VAERS waren Berichte über unerwünschte Nebenwirkungen eingegangen. Einige Säuglinge hatten nach der Impfung eine Intussuszeption entwickelt, eine seltene Form des Darmverschlusses.

“Ich werde nie vergessen, als wir unseren ersten Rotavirus-Impfstoff herausbrachten. Damals war ich Direktor des US-Immunisierungsprogramms”, sagte Dr. Walter Orenstein gegenüber NewsGuard. Er ist stellvertretender Direktor des Emory Vaccine Center und Professor für Infektionskrankheiten an der Emory School of Medicine. “Etwa eine Woche danach kam der Leiter meiner Impfabteilung zu mir und sagte, es gibt eine Häufung von Darmverschlüssen, genannt Intussuszeption. Und das war das entscheidende Signal: Hey, sind die echt oder nicht?”

In dem Fall haben sich die Meldungen bestätigt. Jedoch waren unerwünschte Nebenwirkungen schon immer anfällig für Falschdarstellungen. Das zeigt das Beispiel des Impfstoffs LYMErix, der Borreliose vorbeugt. Die FDA hatte ihn im Dezember 1998 zugelassen. Im folgenden Jahr empfahl der US-Gesundheitsberatungsausschuss (ACIP) ihn für Menschen, die in Gebieten mit hohem Borreliose-Risiko leben oder Tätigkeiten ausüben, bei denen sie häufig Zecken ausgesetzt sind. Die Medien berichteten viel über LYMErix, wobei sie mögliche Impfrisiken kaum erwähnten.

Etwa ein Jahr nach der Zulassung von LYMErix tauchten jedoch die ersten Berichte über Nebenwirkungen in VAERS auf. Diese fanden ein breites Echo in den Medien. Angeblich Betroffene, die von persönlichen Impfschäden berichteten, wurden in der öffentlichen Debatte zu “Impfopfern” erklärt. Im Dezember 1999 reichte die Anwaltskanzlei Sheller, Ludwig & Bailey aus Philadelphia eine Sammelklage gegen den Hersteller von LYMErix ein.

Nachfolgende Studien der FDA und des Impfstoff-Herstellers brachten keine Beweise für Impfschäden. Sie legten lediglich nah, dass einige Menschen genetisch bedingt ein höheres Risiko für chronische, behandlungsresistente Arthritis haben, nachdem sie LYMErix erhalten hatten.

Die FDA bildete im Januar 2001 ein Beratungsgremium zu LYMErix, während die Klagen liefen und die öffentliche Besorgnis wuchs. Das Gremium kam zu dem Schluss, dass die Vorteile von LYMErix gegenüber den Risiken überwiegen. Doch trotz der Verfügbarkeit brachen die Verkaufszahlen ein.

Im Februar 2002 nahm der Hersteller den Impfstoff freiwillig vom US-Markt. Zudem legte das Unternehmen mehrere Sammelklagen bei. Es sei weiterhin von der Sicherheit von LYMErix überzeugt, habe der Beilegung aber aufgrund wirtschaftlicher Bedenken zugestimmt. Die FDA hat die Zulassung von LYMErix nicht widerrufen. Trotzdem ist derzeit kein Borreliose-Impfstoff für die Öffentlichkeit verfügbar.

Checks und Balances: Europäische Systeme bieten unterschiedliche Schutzmechanismen

Im Zuge der weltweiten Einführung von Impfstoffen entwickelten auch andere Länder Warnsysteme für Impfschäden. In einigen Punkten ähneln sie VAERS, in anderen unterscheiden sie sich.

Wie in den USA kann in Frankreich, Italien, Deutschland und Großbritannien jedermann unerwünschte Nebenwirkungen melden. Anonyme Meldungen akzeptiert nur Deutschland. Jedoch bittet das Paul-Ehrlich-Institut, das hierzulande für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel zuständig ist, dringend darum, alle verfügbaren Informationen anzugeben. Das britische System, das sogenannte Yellow Card Scheme, wurde 1964 nach dem Contergan-Skandal eingeführt. Das Medikament wurde schwangeren Frauen verschrieben und führte tausendfach zu Geburtsfehlern.

Während in den USA über VAERS alle Meldungen zu den COVID-19-Impfstoffen frei zugänglich sind, entschieden sich Länder in Europa für eine andere Vorgehensweise. Großbritannien veröffentlichte nicht die Rohdaten, sondern Zusammenfassungen der Yellow-Card-Berichte. Ebenso war es in Frankreich, Italien und Deutschland.

Mehdi Benkebil ist stellvertretender Direktor der Überwachungsbehörde der ANSM, der französischen Behörde für Arzneimittelsicherheit. In einem Telefoninterview mit NewsGuard sagte er: “Wir haben uns entschieden, nicht die Rohdaten herauszugeben, sondern stattdessen Analysen zu veröffentlichen – und zwar wissenschaftliche und medizinische Analysen.”

Anna Rosa Marra, Direktorin der Pharmakovigilanz der italienischen Arzneimittelbehörde (AIFA), äußerte sich ähnlich und sagte gegenüber NewsGuard: “Die von der AIFA verfolgte Politik ist eine Politik der Transparenz, die durch wissenschaftliche Daten gestützt wird. Um die Öffentlichkeit – das allgemeine ebenso wie das Fachpublikum – zu informieren, publizieren wir monatliche Berichte mit Analysen der Impfdaten. So bieten wir die Möglichkeit, Informationen in aggregierter Form abzurufen, ohne etwas zu verbergen.”

In Frankreich lässt das Zentrum für Arzneimittelsicherheit alle Berichte über unerwünschte Nebenwirkungen in ähnlicher Weise von Ärzten oder Apothekern überprüfen, die in schwerwiegenden Fällen die Patienten kontaktieren. Die Rohdaten veröffentlicht die ANSM nicht. Zwar habe Benkebil von keinen Falschmeldungen im Zusammenhang mit COVID-19-Impfstoffen gehört, die ANSM sei darauf aber vorbereitet. “Normalerweise können wir diese leicht identifizieren. Dafür sind unsere Experten da”, sagt er.

Marra mache sich bisher keine Sorgen über Falschmeldungen in Italien: “Bei den COVID-19-Impfstoffen haben die Meldungen von Gesundheitsfachleuten im Vergleich zu anderen Impfstoffen und Medikamenten zugenommen.” Etwa 81 Prozent der AIFA-Meldungen zu den neuen Impfstoffen stammten von Gesundheitsfachleuten, sagte sie NewsGuard. Bei der AIFA können Berichte nicht anonym eingereicht werden – im Unterschied zu VAERS, wo der Trend entgegensetzt ist. In den USA kommen die Meldungen zu einem großen Anteil von Patientinnen und Patienten.

Die Berichte aus Ländern der Europäischen Union wie Frankreich, Deutschland und Italien werden an EudraVigilance weitergeleitet. Die Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) verwaltet die Datenbank und hält die Rohdaten für Nutzer und Nutzerinnen bereit. Auf der Webseite nennt die EMA drei “Schlüsselinformationen”. Darunter folgende: “Informationen über vermutete Nebenwirkungen sind nicht so zu verstehen, dass das Medikament oder der Wirkstoff tatsächlich ursächlich  oder unsicher in der Anwendung ist.” Einzelpersonen können keine Meldungen direkt an EudraVigilance machen; sie müssen über die Gesundheitsbehörden in ihren Ländern wie die ANSM oder AIFA gehen. 

Marra zufolge ist das System wie eine Pyramide aufgebaut – mit EudraVigilance an der Spitze und lokalen medizinischen Fachleuten am unteren Ende. Sie seien die ersten, die die Meldungen untersuchen. “Das italienische nationale Pharmakovigilanz-Netzwerk wird von der AIFA koordiniert. Diese wiederum koordiniert die regionalen Pharmakovigilanz-Zentren”, sagt Marra. “In jeder Gesundheitseinrichtung gibt es lokale Pharmakovigilanz-Manager, die von der AIFA registriert und autorisiert sind. Sie sind diejenigen, die die Berichte validieren.”

Natürlich ist die Bevölkerung in diesen Ländern und damit auch die Anzahl der Meldungen von unerwünschten Ereignissen viel kleiner als in den USA. Neben der unterschiedlichen Darstellung der Daten sieht NewsGuard darin einen weiteren Grund für die Unterschiede zwischen Europa und den USA. Es könnte erklären, warum die von NewsGuard als rot bewerteten europäischen Webseiten die vermeintlichen Quellen für ihre Fehlinformationen über Impfstoffe anders auswählen. Deutlich seltener als ihre Pendants in den USA verweisen sie auf lokale Meldesysteme für Impfnebenwirkungen.

Tatsächlich ist VAERS auch eine bevorzugte Quelle vieler rot bewerteter europäischer Webseiten, die Fehlinformationen über Impfstoffe verbreiten. Mit dem Verweis auf die ausländische Quelle schüren sie Ängste und Zweifel an der Impfstoffsicherheit in den eigenen Ländern.

Zum Beispiel veröffentlichte in Frankreich die rot bewertete Webseite Planetes360.fr im April 2021 einen Artikel, der auf VAERS-Daten basiert. Darin die Behauptung: “736 Personen sind innerhalb von 48 Stunden nach Erhalt des COVID-19-Impfstoffs gestorben.”

Ein Artikel auf der deutschsprachigen, russischen Propagandaseite De.News-Front.info behauptete im Januar 2021: “Laut der US-Bundesdatenbank Vaccine Adverse Event Reporting System starben 55 Personen innerhalb von Tagen nach der Impfung. Bemerkenswert ist, dass die bereits verstorbenen Patienten sowohl mit dem berüchtigten Pfizer-Impfstoff als auch mit dem Medikament Moderna geimpft wurden.”

Ebenfalls im Januar 2021 veröffentlichte in Italien Renovatio21.com einen Artikel mit der Überschrift “Impfstoff, 55 Todesfälle in den USA (laut offiziellem Dokument)”. Darin hieß es weiter: “55 Menschen starben in den Vereinigten Staaten nach der Verabreichung des Impfstoffs von Pfizer und Moderna. Das geht aus dem neuesten Bericht zur Arzneimittelüberwachung von VAERS hervor.”

Das soll nicht heißen, dass sich Impfstoff-Fehlinformationen nicht auch auf andere Meldesysteme beziehen würden. Als eine weitere Quelle zitieren rot bewertete Webseiten die Zusammenfassungen aus dem britischen Yellow Card Scheme. Dabei behandeln sie die Yellow-Card-Berichte häufig als Tatsachenbehauptungen. Wenn einzelne eingestehen, dass Nutzer die sogenannten gelben Karten einreichen, dann immer mit einem Zusatz: In den Berichten über vermeintliche Impfnebenwirkungen zeichne sich wenigstens ein Trend ab.

Ein Beispiel für diese Rhetorik ist ein Artikel vom März 2021 auf der rot bewerteten Webseite VernonColeman.com: “Nach den neuesten Berichten der MHRA über das Yellow-Card-System in Großbritannien haben nun insgesamt 20 Frauen Fehlgeburten erlitten und ihre ungeborenen Babys verloren, nachdem sie einen der mRNA-Impfstoffe erhalten hatten. Man könnte argumentieren, dass einige oder alle dieser Frauen ihre Babys auch ohne den Impfstoff verloren hätten. Aber das weiß man nicht. Keiner weiß es.”

“In der Wissenschaft könnten wir uns die Haare raufen”

Wissenschaftler brauchen VAERS als Untersuchungsinstrument für ihre Forschung. Impfgegner missbrauchen VAERS als vermeintliche Quelle für ihre Fehlinformationen. Wenn die beiden Gruppen auch völlig unterschiedliche Ziele verfolgen, sind sie sich in einem Punkt einig: VAERS ist so wertvoll wegen der Transparenz, und die Vorteile sind einen Kompromiss wert. Dieser Überzeugung ist auch Ellenberg, Professor an der University of Pennsylvania. Ein transparentes System mit Schwächen sei besser, als die Menschen im Dunkeln zu lassen.

“Mit öffentlichem Zugang wird es zu Fehlinterpretationen der Daten kommen”, sagt sie. “Aber ohne öffentlichen Zugang überwiegen meiner Meinung nach die Nachteile. Denn dann machen sich die Leute ihre eigenen Vorstellungen –  und die können noch schlimmer sein.”

Ansichten über VAERS sind in der Anti-Impf-Welt ähnlich, auch wenn diese Gruppen das System selten für seine eigentlichen Ziele einsetzen.

Barbara Loe Fisher, Mitbegründerin und Präsidentin des National Vaccine Information Center, erklärte gegenüber NewsGuard, dass VAERS es Geimpften und deren Familien ermöglicht, Berichte einzureichen, “wenn ein Impfstoffhersteller versäumt hat, ein schwerwiegendes Ereignis zu melden”. Sie merkt zudem an, dass “die Transparenz von VAERS auch sicherstellt, dass Wissenschaftler offenen Zugang zu der Datenbank haben, um sie als Forschungsinstrument zu nutzen”.

Es ist umstritten, ob die Vorteile von VAERS tatsächlich gegenüber den Risiken überwiegen. Professor Ellenberg glaubt, dass sich Schaden durch eine informierte Öffentlichkeit am besten abwenden lässt. Man müsse die Leute über das System und seinen Zweck aufklären, um unerwünschten Folgen entgegenzuwirken.

“In der Wissenschaft könnten wir uns die Haare raufen, wie manche Dinge missinterpretiert werden”, sagt sie. “Alles, was wir tun können: weiterhin zu versuchen, die Leute aufzuklären.” 

Nachdem die VAERS-Rohdaten so lange öffentlich gewesen sind, wären die Reaktionen vorprogrammiert, würde man sie nun verbergen. Die Aufschreie über eine Staatsverschwörung ließen nicht lange auf sich warten.