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Fehlinformations-Tracker zur Europawahl

Von Sara Badilini, Leonie Pfaller und Giulia Pozzi | Zuletzt aktualisiert am 4. Juni 2024

Vom 6. bis 9. Juni 2024 können rund 373 Millionen Bürger:innen aus den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union das neue Europaparlament wählen.

Das Europäische Parlament, Teil der EU-Legislative, ist das einzige politische Organ der multinationalen Organisation, das direkt von den EU-Bürger:innen gewählt wird. Das Europäische Parlament hat weitreichende Befugnisse, darunter die Wahl des Präsidenten oder der Präsidentin der Europäischen Kommission und die Entscheidungshoheit über den EU-Haushalt (189 Milliarden Euro im Jahr 2024). Gemeinsam mit dem Ministerrat verabschiedet es Gesetze in rund 85 Politikbereichen, darunter Landwirtschaft, Energie, Verkehr, Umwelt und Datenschutz. Mit dem Digital Services Act 2022 wurden beispielsweise 19 Online-Plattformen und Suchmaschinen, darunter Facebook, Instagram, YouTube, TikTok und Google Search, dazu verpflichtet, strengere Regeln für die Moderation von Inhalten, Werbung, Transparenz des Algorithmus und den Schutz von Minderjährigen einzuhalten.

 In den Wochen vor der Wahl hat NewsGuard einen deutlichen Anstieg falscher Behauptungen über die EU im Internet festgestellt – einige darunter neu, andere altbekannt. Die Behauptungen zielen auf EU-Institutionen, -Politik und -Vertreter:innen ab. Sie sollen Misstrauen unter den Wähler:innen wecken und die Abstimmung delegitimieren. Im April 2024 erreichten EU-bezogene Falschinformationen den höchsten Stand seit Mai 2023. Sie machten 11 Prozent der gesamten Online-Falschinformationen aus, so die Europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien (EDMO).

NewsGuards Recherche hat ergeben, dass folgende Themen vor der Wahl besonders Ziel von falschen und irreführenden Darstellungen sind:

  • Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen
  • EU-Gesetze, -Verordnungen und -Vorschläge
  • Landwirtschaft in der EU
  • EU-Abstimmungsverfahren

Dieses Tracking-Center liefert Zusammenfassungen und Widerlegungen einiger der viralsten wahlbezogenen Falschbehauptungen, die das Journalistenteam von NewsGuard identifiziert hat. NewsGuard wird zudem auch über die Wahlen hinaus falsche und irreführende Informationen über die EU beobachten und diese Seite entsprechend aktualisieren.

Falschinformationen über die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen

Als Präsidentin der Europäischen Kommission und somit Vorsitzende der EU-Exekutive, ist Ursula von der Leyen eine der prominentesten Persönlichkeiten in der EU-Politik. Falsche Behauptungen über sie haben im Laufe des Jahres immer mehr an Fahrt aufgenommen: Sie klagen von der Leyens Familie an, Verbindungen zu Nazis zu haben, oder behaupten, von der Leyen stecke unter einer Decke mit der Pharmaindustrie. Die Anzahl und Schärfe der Falschinformationen machen von der Leyen zum größten Ziel von Desinformationskampagnen, vergleichbar mit Persönlichkeiten wie dem Microsoft-Mitbegründer Bill Gates und dem US-amerikanischen Milliardär und Philanthropen George Soros. Ein Beispiel:

FALSCHBEHAUPTUNG: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist mit einem Nazi-Offizier verwandt

Entgegen den Behauptungen in den sozialen Medien ist die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nicht mit dem Nazi-Funktionär Freiherr Joachim Otto Georg Dietrich Adolf von der Leyen verwandt. Obwohl sie den gleichen Nachnamen tragen, gibt es keine familiäre Beziehung zwischen den beiden. Tatsächlich lautet von der Leyens Mädchenname Ursula Gertrud Albrecht.

Die falsche Behauptung, Ursula von der Leyen sei mit Freiherr von der Leyen, einem Verwalter der Nationalsozialisten im besetzten Polen und der Tschechoslowakei, verwandt, wurde bereits 2022 verbreitet. Sie ist kürzlich auf X und Facebook wieder aufgetaucht.

Eine im März 2024 von der französischen Nachrichtenagentur Agence France-Presse durchgeführte Untersuchung von Archivdokumenten ergab, dass die Vorfahren von Ursula von der Leyen in keinerlei Verbindung zu dem Nazi-Beamten stehen. Ursula von der Leyens Vater, Ernst Albrecht, lebte zwischen 1930 und 2014 und war ehemaliger Ministerpräsident Niedersachsens, wie die Pressestelle der deutschen Vertretung der Europäischen Kommission gegenüber dem deutschen Faktenprüfer Correctiv bestätigte.

Ernst Albrecht wiederum war der Sohn von Karl Eduard Albrecht, einem Arzt und Psychologen aus Norddeutschland, der zwischen 1902 und 1965 lebte. Es gibt keine Verbindung zwischen Albrecht und den Nazionalsozialisten, berichtet das belgische Magazin Knack.be. 

(NewsGuard-Kund:innen können den vollständigen Misinformation Fingerprint hier lesen sowie auf Faktenchecks zu ähnlichen Falschbehauptungen zugreifen).

Falschinformationen über EU-Gesetze, -Verordnungen und -Vorschläge

Seit Jahren verbreiten Nutzer:innen sozialer Medien falsche Behauptungen über EU-weite Verordnungen. Dabei werden oft Umfang oder Auswirkungen der tatsächlichen Gesetze falsch dargestellt. Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament sind einige bereits widerlegte Behauptungen über EU-Verordnungen erneut aufgetaucht und haben viel Aufmerksamkeit erhalten. Zum Beispiel:

FALSCHBEHAUPTUNG: Die Europäische Union zwingt ihre Bürger:innen zum Verzehr von Insekten

Entgegen den seit Januar 2023 in den sozialen Medien verbreiteten Behauptungen zwingt die Europäische Union ihre Bürger:innen nicht zum Verzehr von Lebensmittel auf Insektenbasis. Nach dem EU-Lebensmittelrecht müssen Lebensmittel, die aus Insekten gewonnene Produkte enthalten, diese Zutaten auf ihren Etiketten deutlich aufführen. Dadurch können Bürger:innen klar erkennen, ob ein Lebensmittel Insekten enthält.

Im Januar 2023 genehmigte die Europäische Kommission, die Verwendung eines aus Grillen gewonnenen Pulvers in Lebensmitteln. Zudem erlaubte sie die Vermarktung von Larven des Schimmellkäfers (auch bekannt als Alphitobius diaperinus) in gefrorener, pastöser, getrockneter und pulverisierter Form. Zuvor hatte die EU bereits andere Arten von Lebensmitteln zugelassen, die aus Insekten gewonnen werden. Die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Gesetze über Lebensmittel auf Insektenbasis schützen die Verbraucher:innen jedoch vor dem unwissentlichen Verzehr dieser Art von Produkten.

 Die EU schreibt vor, dass auf der Etikettierung von Lebensmitteln alle Inhaltsstoffe deutlich angegeben werden müssen. Produkte, die Insekten enthalten, müssen den Verbraucher:innen diese Informationen offenlegen, erklärte ein Vertreter der Europäischen Kommission im Januar 2023 gegenüber Agence France-Presse. „Es muss in der Zutatenliste deutlich angegeben werden, dass diese Zutat in dem Produkt enthalten ist“, so der Vertreter.

(NewsGuard-Kund:innen können den vollständigen Misinformation Fingerprint hier lesen sowie auf Faktenchecks zu ähnlichen Falschbehauptungen zugreifen).

Falschinformationen über die Landwirtschaft in der EU

Im Zuge der EU-weiten Proteste der Landwirte Ende 2023 und Anfang 2024 tauchten neue Behauptungen auf und ältere kamen wieder zum Vorschein. NewsGuard hat im Vorfeld der Parlamentswahlen eine zunehmende Anzahl dieser falschen Darstellungen über die Gesetzgebung und die allgemeine Haltung der EU zur Landwirtschaft festgestellt. Zum Beispiel:

MYTHOS: Die Europäische Union plant ein Verbot der Tierhaltung

 

Entgegen den Behauptungen rechter italienischer Nachrichtenseiten und von Nutzern sozialer Medien auf Facebook und X hat die Europäische Union keine Direktive erlassen, die „Tierhaltung verbieten“ und europäische Landwirte in den Bankrott treiben wird.

Wie der italienische Faktenchecker Open.online berichtet, hat die EU keine Maßnahmen zum Verbot der Tierhaltung beschlossen. Das irreführende Narrativ stellt eine überarbeitete Richtlinie über Industrieemissionen falsch dar, die darauf abzielt, „die Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung durch große agro-industrielle Anlagen zu bekämpfen“, wie es in einer Pressemitteilung des Europäischen Parlaments heißt. 

Die Richtlinie, die am 12. März 2024 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde und auf die Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten wartet, fordert von Industrieanlagen die Einhaltung strengerer Verschmutzungsstandards. Ab 2030 werden diese Vorschriften für eine größere Anzahl von Schweine- und Geflügelbetrieben gelten, die bei Nichteinhaltung mit Strafen rechnen müssen. In der Richtlinie wird nirgends ein Verbot der Tierhaltung gefordert. 

(NewsGuard-Kund:innen können den vollständigen Misinformation Fingerprint hier lesen sowie auf Faktenchecks zu ähnlichen Falschbehauptungen zugreifen).

Falschinformationen über Abstimmungsverfahren

In den Wochen vor den Parlamentswahlen haben Falschinformationen über die Wahlverfahren in der EU auf den Sozialen Medien an Popularität gewonnen. Die EU-Wahlen werden auf nationaler Ebene gemäß den in den einzelnen Ländern geltenden Wahlvorschriften organisiert. Das bedeutet, dass in einigen Ländern die Briefwahl erlaubt ist, in anderen nicht, in einigen Ländern ist die Stimmabgabe freiwillig, in anderen ist sie vorgeschrieben. Dies hat zu verschiedenen Mythen geführt. Zum Beispiel:

MYTHOS: Deutsche bekamen Briefwahlunterlagen mit Löchern und Schnitten, um ihre Stimmen ungültig zu machen

 

Entgegen den Behauptungen deutscher Social-Media-Nutzer im April und Mai 2024 sind Papier-Wahlzettel, die ein gestanztes Loch oder eine abgeschnittene Ecke haben, trotzdem gültig. Sie machen die Stimmen der deutschen Wähler, die diese Wahlzettel bei den EU-Wahlen im Juni verwenden, nicht ungültig.

Am 8. Mai 2024 wurde das Bild eines Stimmzettels mit einem Loch in der oberen Ecke in der Telegram-Gruppe „Soldaten & Reservisten“ geteilt, auf dem eine eingeblendeter Text lautete: „So Leute, ich habe, wohlweislich Briefwahl beantrag und gestern die Unterlagen bekommen!! Wie Ihr seht, gelocht, von vorneherein, ungültig !!“ Das gleiche Bild wurde auf Facebook und TikTok geteilt.

Tatsächlich sind in Deutschland Stimmzettel mit abgeschnittenen Ecken oder Löchern vorgeschrieben. Sie dienen als Hilfsmittel für sehbehinderte Menschen, damit sie mit Hilfe spezieller Wahlschablonen selbständig wählen können, wie AFP berichtete.  Außerdem zeigt das auf Telegram, TikTok und Facebook geteilte Bild keinen Stimmzettel für die anstehenden EU-Wahlen, sondern einen Stimmzettel, für eine Landtagswahl in Deutschland aus dem Jahr 2021.

(NewsGuard-Kund:innen können den vollständigen Misinformation Fingerprint hier lesen sowie auf Faktenchecks zu ähnlichen Falschbehauptungen zugreifen).