Misinformation Monitor: September 2021

Neue Desinformations-Trends kurz vor Bundestagswahl

Webseiten säen vermehrt Zweifel an der Integrität des Wahlprozesses, während Grüne nach wie vor Hauptziel von Desinformation sind

Von Roberta Schmid, Katharina Stahlhofen und Marie Richter

Nur wenige Tage vor der Bundestagswahl beobachten NewsGuards Analysten, dass die Häufigkeit neuer Falschbehauptungen steigt. Dabei verändert sich auch ihr Fokus: Während es bisher vor allem um die Parteien und ihre Kandidaten ging, verbreiten die Webseiten nun vermehrt Falschbehauptungen, die den Wahlprozess angreifen. Darunter sind altbekannte Verschwörungstheorien rund um die Briefwahl – eine Parallele zur US-Wahl im vergangenen Jahr, wo die Debatte um das Thema stark manipuliert wurde. Andere gefährliche Fehlinformationen zweifeln das Wahlrecht in Deutschland an – mit dramatischen Folgen für die Demokratie. Verunsicherte Wählerinnen und Wähler verlieren das Vertrauen ins Wahlsystem und politische Prozesse im Land.

Die Falschbehauptungen, die sich explizit gegen Parteien und Politiker richten, zielen zunehmend auch auf CDU/CSU und SPD ab. Jedoch bleiben die Grünen weiterhin das Hauptziel der Desinformationskampagnen.

In Zahlen: NewsGuards Desinformations-Tracker zur Bundestagswahl dokumentiert mittlerweile mehr als 60 Falschbehauptungen rund um die Wahl –  22 davon, die auf die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin abzielen, sowie 17 über die CDU/CSU und ihre Politiker. Vor einem Monat lag das Verhältnis noch bei 16 Behauptungen über die Grünen im Vergleich zu 12 über die CDU/CSU. Die SPD kam relativ gut davon. NewsGuard katalogisierte bisher 8 Falschbehauptungen, die über die Partei kursieren. Davon richtete sich keine explizit gegen deren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Des Weiteren fand NewsGuard keine falschen Behauptungen über Die Linke, die FDP oder die AfD.

Ein Artikel auf der verschwörungsideologischen Webseite Pravda-TV.com, die falsche Narrative über die Wahl verbreitet. Der Eigentümer Nikolas Pravda hat bereits in der Vergangenheit politische und gesundheitliche Mythen verbreitet – darunter, dass die Mitglieder der britischen Königsfamilie Reptilien seien. (Screenshot via NewsGuard)

Falschinformationen, die sich gegen den Prozess selbst richten, werden kurz vor den Wahlen besonders von rechtsgerichteten Webseiten verbreitet. Anfang September berichtete die von NewsGuard als rot bewertete – also allgemein unzuverlässige – Webseite Pravda-TV.com, es gelte in Deutschland kein gültiges Wahlrecht und keine Institution habe das Recht, Wahlen abzuhalten.

  • Im Sommer 2012 hatte tatsächlich das Bundesverfassungsgericht eine von CDU und FDP vorgebrachte Änderung des Wahlgesetztes gekippt. Pravda-TV berichtete darüber jedoch fälschlicherweise:
    • “Da der Präsident des Gerichts in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich betonte, dass auch das alte Wahlrecht keine Gültigkeit mehr hat, stand fest, dass alle Wahlen seit mindestens 1956 ungültig waren. […] Auch aus diesem Grund ist die kommende Wahl am 26. September bereits vor Beginn ungültig.
    • Und: “Keine Stadtverwaltung, Gemeindeverwaltung oder Kreisverwaltung besitzt eine Legitimation Wahlbenachrichtigungen zu versenden, geschweige denn Wahlen abzuhalten. Denn sie sind alle Firmen und besitzen keinen Amts-Status und Hoheitsrechte.
    • Laut CrowdTangle erreichte der Artikel knapp 10.000 Menschen auf Facebook.
  • Dieses Narrativ lehnt sich an existierende falsche Spekulationen der Reichsbürgerbewegung an. Deren Anhänger behaupten, Deutschland sei nicht souverän, sondern seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg heimlich von den USA besetzt. Daher lehnen sie auch politische System der Bundesrepublik ab und sprechen den Behörden ihre Zuständigkeiten und den Wahlen ihre Legitimität ab.
  • Die Behauptungen lassen sich schnell entkräften: Der Präsident des Gerichts sagte nie, dass alle Wahlen seit 1956 ungültig gewesen seien oder dass die kommenden Wahlen ungültig sein würden. Für diese Behauptungen gibt es keine Belege. (Den kompletten Debunk können Sie im Desinformations-Tracker auf unserer Webseite nachlesen.)

Viele der Verschwörungstheorien über den Wahlprozess sind alte Bekannte. Sie ähneln oder decken sich komplett mit der Desinformation, die auch schon während der US-Wahl im vergangenen Jahr kursierte. Bestes Beispiel für eine Behauptung, die sich auf beiden Seiten des Atlantiks verbreitete: Briefwahlen seien Instrumente für Wahlbetrug. Diese diskreditierende Behauptung streuen rechtsgerichtete Parteien in Deutschland seit Jahren. Während der US-Wahl erhielt sie neuen Antrieb von Webseiten, ebenfalls aus dem rechten Lager. In Deutschland bekam sie im Wahlmonat Aufwind.

  • So brachte die rechte Nachrichtenwebseite Contra-Magazin.com nur fünf Tage vor der Wahl einen Artikel mit der Überschrift “Bundestagswahl: Die Briefwahl öffnet der Manipulation Tür und Tor”.
    • Im Text hieß es weiter: “Immer mehr Deutsche wählen per Briefwahl. Doch das untergräbt die unbeeinflusste Wahl und das Wahlgeheimnis.”
    • “Ob nun die SPD oder die Grünen knapp vor der Union liegen, ob kleinere Parteien in den Bundestag einziehen oder draußen bleiben – all dies ist auch ein Resultat der Manipulation des Wählerwillens mit der faktischen Aufhebung der freien, gleichen und geheimen Wahl, die mit der Briefwahl einher geht. Wollen wir das wirklich?”
  • Der Artikel erreichte laut CrowdTangle mehr als 5.000 Menschen auf Twitter.

Ein Artikel, der die Legitimität der Briefwahl anzweifelt, auf Contra-Magazin.com. (Sreenshot via NewsGuard)

Unter Falschbehauptungen in den sozialen Medien finden sich ähnliche Behauptungen. Diese katalogisiert NewsGuard ebenfalls in einem längeren, nicht öffentlichen Monitoring. Eine Falschmeldung verbreitete sich im September auf Telegram und Facebook, dass Stimmzetteln eine Ecke abgeschnitten werde oder sie würden gelocht, um sie von vornherein ungültig zu machen. Auch hier bestehen Parallelen zu den USA: Nach dem Urnengang kam dort das Gerücht um Wahlmanipulationen zum Nachteil der Republikaner auf. Wählern und Wählerinnen in Arizona sei für ihr Kreuz auf dem Stimmzettel ein Permanentmarker gegeben worden. Doch mit so einem Stift seien Stimmzettel ungültig – und die Wähler damit entmündigt.

  • Beide Behauptungen haben NewsGuard-Analysten und Faktenchecker der gemeinnützigen Organisation Correctiv widerlegt. Denn weder die abgeschnittene Ecke noch die Verwendung eines Permanentmarkers machen die Stimme der Wähler in den jeweiligen Ländern ungültig.

Auch in den Wochen vor der Bundestagswahl gaben aktuelle Geschehnisse den Anstoß für neue Falschbehauptungen. Im Juli berichtete NewsGuard bereits darüber, wie mit den Überschwemmungen in verschiedenen Landesteilen Falschinformationen über die anstehenden Wahlen aufkamen. Darunter waren einmal mehr Artikel auf rechtsgerichteten Webseiten: Die Katastrophe sei absichtlich herbeigeführt worden, um die Umfragewerte vor der Wahl zu manipulieren. Im August und September waren Corona-Regelungen der Regierung sowie die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan ein Nährboden für Desinformation mit Wahlbezug.

  • So behauptete die rechtsradikale Nachrichtenwebseite Zuerst.de in einem August-Artikel, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CDU) behindere absichtlich den Zugang zu einem bevorstehenden Referendum. Mit diesem Ziel habe er die bisher kostenlosen Corona-Tests genau am Tag des Referendums kostenpflichtig gemacht.
  • Die Gegendarstellung: Es stimmt zwar, dass COVID-19-Tests in Deutschland ab dem Datum des Referendums nicht mehr kostenlos zur Verfügung stehen werden. Aber um am Volksbegehren teilzunehmen, ist kein Negativtest erforderlich.)

Eine ähnliche Behauptung ging in den sozialen Medien mit Blick auf die Bundestagswahl um. Da hieß es, man dürfe nur geimpft, genesen oder getestet ins Wahlbüro gehen. Allerdings gilt dort lediglich eine Masken- und keine Testpflicht.

Über die Krise in Afghanistan berichtete Zuerst.de, die Regierung nutze die chaotische Situation in dem Land aus, um hunderte kriminelle Afghanen nach Deutschland zu bringen.

  • In einem Artikel von September 2021 auf der Webseite hieß es: “Die Bundesregierung [lässt] nichts unversucht, um möglichst viele Ausländer nach Deutschand einzuschleusen (darunter auch, wie jetzt bei den ‘Ortskräften’ aus Afghanistan geschehen, hunderte Kriminelle).”
  • Wie die Tagesschau berichtete, gelangten bisher jedoch lediglich rund 20 Personen aus Versehen ins Land, die den Sicherheitsbehörden wegen früherer Straftaten bekannt sind. Der Grund für diese Einzelfälle: Aufgrund der Notsituation in Afghanistan konnten die Behörden nicht alle Evakuierten einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen.

Zudem verbreitete sich ein gefälschtes Zitat von Außenminister Heiko Maas auf Facebook. Demzufolge habe er gesagt: “Wir werden den afghanischen Flüchtlingen in Deutschland ein besseres Afghanistan bieten, welches sie je hatten.” Laut AFP ist dieses Zitat jedoch komplett erfunden.

Warum das von Bedeutung ist: Besonders in den Tagen vor der Bundestagswahl gefährdet Desinformation das Vertrauen potenzieller Wähler in den demokratischen Wahlprozess. Webseiten, die Des- und Fehlinformationen veröffentlichen, bedienen mitunter eine breite Palette an Themen, die von COVID-19 über Wahlmanipulation bis Einwanderung reichen. Dieser Zuwachs im Vorfeld der Bundestagswahl zusammen mit den Dutzenden falschen Narrativen, die NewsGuard schon seit Monaten beobachtet, ist besorgniserregend: Lassen Bürger und Bürgerinnen sich beeinflussen, könnte ein Teil der Unentschlossenen ins Lager der Nichtwähler wechseln. Die Wahlbeteiligung sinkt, wovon radikale Parteien profitieren können.